Cédric Giraud: Notre-Dame de Paris 1163-2013. Actes du colloque scientifique tenu au Collège des Bernardins, à Paris du 12 au 15 décembre 2012, Turnhout: Brepols 2013, 658 S., 41 Farb-,4 s/w-Abb., 4 Tabellen, ISBN 978-2-503-54937-8, EUR 118,49
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Die französische Tageszeitung "Le Monde" berichtete ausführlich und auch der "New York Times" war das Ereignis einen Artikel wert: die Weihe von acht neuen, für die Pariser Kathedrale Notre-Dame bestimmten Glocken interessierte ganz offensichtlich nicht nur die überschaubare Zahl der Katholiken der Hauptstadt, sondern weit darüber hinaus ein Publikum, dem der Ehrentitel Frankreichs als "fille aînée de l'Église" für gewöhnlich wenig mehr als ein Lächeln entlockt. An der anlässlich der Glockenweihe vollzogenen liturgischen Zeremonie nahmen selbstverständlich hohe Vertreter des Staates teil - und dies nicht nur, weil man für das Geläut bezahlt hatte. Notre-Dame nimmt als Kathedrale des Erzbischofs von Paris eine Sonderstellung im ansonsten streng laizistischen Frankreich ein. Das Schweigen, mit dem die Nation am Tag nach dem Anschlag auf die Redaktion von "Charlie Hebdo" ihrer Trauer über die Toten Ausdruck verlieh, war eindrucksvoll - und wurde nur vom Klang der großen Totenglocke der Kathedrale begleitet. 80 Könige, zwei Kaiser und fünf Republiken hat sie bisher überlebt: 1163 wurde der Grundstein gelegt. Notre-Dame feierte im Jahr 2013 also 850. Geburtstag - Grund genug, um das volle, vorrevolutionäre Geläut wieder herzustellen, das Innere der Kathedrale einer Auffrischung zu unterziehen und einen großen internationalen Historikerkongress zu veranstalten, auf dem neue Forschungsergebnisse zur Geschichte der Kathedrale in den 850 Jahren ihres Bestehens präsentiert werden sollten. Erwünscht waren - so André Kardinal Vingt-Trois in seinem kurzen Vorwort - Beiträge zur Entschlüsselung der "grammaire de cette histoire" (6).
Die Dimensionen des Baus beeindrucken noch heute - jährlich 14 Millionen Besucher sprechen für sich. Nur drei Jahre nach seiner Wahl hatte Maurice de Sully 1163 das gewaltige Neubauprojekt in Angriff genommen, dessen rasches Voranschreiten etwas von der Energie des Erbauers verrät. Im Laufe von nur zwei Episkopaten - Maurice amtierte bis 1196, sein Nachfolger Eudes bis 1208 - konnte ein Großteil der Arbeiten zum Abschluss gebracht werden. Das Ergebnis war beeindruckend: insbesondere die im Chorbereich 33 Meter hohen Gewölbe sorgten für allgemeines Staunen.
Der bemerkenswert sorgfältig lektorierte Band umfasst fünf Sektionen mit insgesamt 25 Beiträgen, die ausnahmslos von den besten Kennern der Materie verfasst wurden (I. L'évêque et sa cathédrale: figures épiscopales et rayonnement de Notre-Dame; II. La cathédrale, son école et l'université: maîtres et enseignement; III. La cathédrale et la Cité: évêques et chanoines; IV. La cathédrale et la Cité de Dieu; V. La cathédrale et la terre des hommes). Zwar wird nicht immer mit brandneuen Forschungsergebnissen aufgewartet, aber auch konzise Synthesen komplexer Themenfelder liest man mit Gewinn.
Der Blick auf die beiden für den Bau der Kathedrale direkt verantwortlichen Bischöfe fehlt nicht (N. Bériou: Maurice et Eudes de Sully et la cathédrale de Paris, 21-28) und auch am Beispiel einiger anderer Bischöfe wird exemplarisch aufgezeigt, wie das Verhältnis zur eigenen Kathedralkirche administrativ, politisch, pastoral und spirituell beschaffen sein konnte (C. Vulliez: L'évêque de Paris Étienne Tempier (1268-1279) et son entourage ecclésiastique, 217-233; V. Julerot: De Soissons à la capitale: l'ascension brisée de Gérard Gobaille, élu évêque de Paris en 1492, 235-250; P. Gombert: Le cardinal de Noailles et Notre-Dame, 37-49; G. Pelletier: Le cardinal Jean-Marie Lustiger en sa cathédrale (1981-2005), 57-77). Vielleicht ist es noch zu früh, den 24jährigen Episkopat Lustigers umfassend zu würdigen, klar ist aber, dass unter ihm - dem ersten Bischof in Paris, der unter Dauerbeobachtung der Medien stand - weitreichende Veränderungen liturgischer und organisatorischer Natur in Angriff genommen wurden. Lustiger ist insbesondere die Hebung des deplorablen musikalischen Niveaus in der Kathedrale zu verdanken. Zwar amtierten im 20. Jahrhundert Organisten und Chorleiter von Weltruhm wie Pierre Cocherau und Jehan Revert - man sollte sich stets vor Augen führen, dass die "Schule von Notre-Dame" im ausgehenden 12. und beginnenden 13. Jahrhundert das non plus ultra abendländischer Musikpraxis verkörperte (C. Maître: Le plain-chant de l'office à Notre-Dame, 267-280; G. Gross: L'art virtuose de la louange dans les offices liturgiques des jours de fête sous le ministère d'Eudes de Sully, 281-300) -, doch insgesamt ließ die musikalische Ausgestaltung der Gottesdienste zweierlei vermissen: musikalisches Raffinement und Hinwendung zu zeitgenössischer Musik. Dies änderte sich unter Lustiger, doch eines konnte auch ein kultur- und musikaffiner Kardinal nicht ändern: die traditionell fest verankerte Passivität der nicht-singenden Gemeinde.
Lustiger schenkte vielem Beachtung, vernachlässigte dabei aber (bewusst?) eine Institution, die über Jahrhunderte die Kathedrale mindestens ebenso stark geprägt hatte wie die Bischöfe selbst: das Kathedralkapitel. Hier ist es insbesondere ein Beitrag, der aufgrund seiner Qualität, der erzielten Ergebnisse und daraus abgeleiteten Forschungsperspektiven Maßstäbe setzt. Konzipiert als "modeste photographie de la composition du chapitre cathédral" (195) richtet Pascal Montaubin den Blick auf die Zusammensetzung und die Aktivitäten des Kapitels um die Mitte des 13. Jahrhunderts (Les chanoines de Notre-Dame de Paris à la mort de l'évêque Guillaume d'Auvergne (1249), 195-216) - der erste Versuch, die Institution insbesondere prosopographisch genauer zu erfassen. Das Kapitel bestand aus 51 Personen, verfügte über reiche Besitztümer in und außerhalb von Paris, aus denen ein durchschnittliches pro Kopf-Einkommen von 100 Pfund generiert werden konnte: die Pariser Kathedralpfründen gehörten damit definitiv zu den lukrativsten Präbenden des Abendlands. Das "Grundeinkommen" konnte zusätzlich durch Präsenzgelder in Höhe von 30 Pfund gesteigert werden. Überraschenderweise finden sich im Kapitel Vertreter des lokalen Adels ebenso wenig wie bischöfliche Vasallen. Bischof Guillaume d'Auvergne hatte offensichtlich keine nepotistische Politik betrieben, sich unbeeindruckt von Einflussnahmen des Adels gezeigt und auf das intellektuelle Niveau derjenigen geachtet, die er ins Kolleg berief. Rund 20% der Kanoniker stammten aus Italien und waren nicht durch bischöfliche Ernennung, sondern durch päpstliche Kollation an ihre Pfründe gelangt. Der Befund ist eindeutig: "Plus que beaucoup d'autres en Occident, le chapitre parisien apparaît à l'avant-garde de la méritocratie cléricale à l'époque du développement de l'Université."(214)
Die Verbindungen der Kathedrale zur um 1200 entstehenden Universität waren eng, aber nicht unbedingt gut. Das Recht des Kanzlers von Notre-Dame, die licentia docendi zu verleihen, sorgte fortwährend für Konfliktstoff (N. Gorochov: L'évêque de Paris, le chapitre cathédral de Notre-Dame et l'université au Moyen Âge, 113-124). Im Kapitel fanden sich intellektuelle Größen, die prestigereiche Theologielehrstühle besetzten und deren Schriften nicht nur den Universitätsbetrieb in Paris maßgeblich mitprägten: die Namen von Petrus Lombardus und Jean Gerson stehen für viele andere (C. Angotti: Le rayonnement du Livre des Sentences de maître Pierre Lombard, évêque de Paris, 79-95; B. Sère: Chancelier, chanoine et réformateur: Jean Gerson à Notre-Dame de Paris (1395-1414), 125-142).
Neuland betritt Jean-Vincent Jourd'heuil mit seiner Untersuchung zu den Bischofsgräbern in der Pariser Kathedrale (Les sépultures épiscopales parisiennes du XIIe siècle à la Renaissance: de Saint-Victor à Notre-Dame, 145-193). Grundsätzlich gilt, dass anders als in Norditalien in nordfranzösischen Kathedralen vor dem 10. Jahrhundert keine Bischofsgräber existierten - in Paris ist kein einziges Bischofsgrab vor dem 11. Jahrhundert belegt. Üblich war die Beisetzung eines Bischofs in einem Kloster - so auch in Paris, wo die Abtei von Saint-Victor lange Zeit als bischöfliche Grablege fungierte. Von den zwischen 1116 und 1349 gestorbenen 21 Bischöfen fanden acht ihre letzte Ruhe in Saint-Victor, neun in Notre-Dame, der Rest andernorts. Neben den Bischöfen ließen sich auch Kanoniker in "ihrer" Kathedrale bestatten - allerdings nicht im Chor bzw. dem Sanktuarium, das jurisdiktionell dem Bischof unterstand. In einem nützlichen Anhang werden die Begräbnisorte der Pariser Bischöfe im Zeitraum von 1208 bis 1532 aufgelistet (191-193).
Weitere Beiträge liest man ebenfalls mit großem Gewinn: Jean-Baptiste Lebigue beschäftigt sich mit der Krönung Heinrichs VI., die 1431 in der Kathedrale stattfand (L'ordo du sacre d'Henri VI à Notre-Dame de Paris (16 décembre 1431), 319-363) und ediert den Krönungsordo, den er entgegen dem Großteil der Forschung nicht in der englischen Tradition verortet, sondern auf den (französischen) Ordo Karls V. zurückführt. Mit einer liturgischen Besonderheit, die nicht nur in Paris für Zündstoff sorgte, befasst sich Yann Dahhaoui: dem am 1. Januar in der Kathedrale gefeierten Narrenfest (L'évêque de Paris, le légat et la fête des fous à Notre-Dame. Histoire de l'interprétation d'une ordonnance, 367-383). Die Studie richtet dabei den Blick auf die Gesamtheit der historiographischen Tradition zum Problemkomplex seit dem 17. Jahrhundert und plädiert mit guten Argumenten dafür, die Stellung der Ordonnance im Narrenfest-Diskurs neu zu überdenken.
Ausführungen zum Verhältnis der Kathedrale zum zeitgleich entstehenden Hôtel-Dieu oder zu den abhängigen Pariser Pfarrkirchen runden einen Band ab, der dazu beiträgt, sehr viel besser als bisher das Wirken unterschiedlicher Personengruppen an, in und mit einem der großartigsten abendländischen Bauwerke des Mittelalters nachvollziehen und beurteilen zu können: der Kathedrale Notre-Dame. Dem Band ist weite Verbreitung zu wünschen.
Ralf Lützelschwab