James H. Richardson / Federico Santangelo (eds.): The Roman Historical Tradition. Regal and Republican Rome (= Oxford Readings in Classical Studies), Oxford: Oxford University Press 2014, X + 372 S., ISBN 978-0-19-965785-8, GBP 40,00
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Sicher, einige der frühen "Wege der Forschung"-Bände sind als Versuche der von Ernst Anrich gegründeten "Wissenschaftlichen Buchgesellschaft" zu werten, kompromittierten Altertumswissenschaftlern in den 1960er-Jahren wieder Stimme und Reputation zu verschaffen. Die von dem einst tiefbraunen Hans Oppermann [1] herausgegebenen Bände feierten nochmals Römertugenden und ein nunmehr (wieder) opportunes Humanismuskonzept; einigermaßen fassungslos fragte Christian Meier in der HZ, wie in die unter dem Titel "Das Staatsdenken der Römer" vereinte "relativ bunte Sammlung von Aufsätzen zur römischen Geschichte und Staatstheorie" auch Hans Drexlers bekannte dignitas-Rede aus dem Jahr 1943 geraten konnte. Gleichwohl wird man sagen können, dass die meisten WdF-Bände für Altertumswissenschaftler der heute mittleren bis älteren Generation unentbehrliche Wegbegleiter waren. Wer tiefer in ein Gebiet eindringen wollte, war froh, wenn es einen der gediegen aufgemachten hellgrauen Bände gab; was in "Griechische Staatskunde", "Augustus" oder "Römischer Kaiserkult" stand, sollte man gelesen haben. Das galt (und gilt) auch für die meisten Autorenbände, zumal zu den Historiographen von Herodot bis Tacitus. Selbstverständlich war lange Zeit der Service, fremdsprachige Arbeiten zu übersetzen und die Originalpaginierung hinzuzufügen.
Aber ist so ein Format nicht obsolet, in Zeiten, wo durch JSTOR, retrodigitalisierte Zeitschriften und kursierende Hekatomben von eingescanten Sammelbänden Aufsätze mit wenigen Mausklicks heruntergeladen und ausgedruckt werden können? Au contraire! Gerade in der nicht mehr zu überschauenden Fülle des Angebots ist eine Kanonisierung begründbar gehaltvoller, einflussreicher und wertbeständiger Beiträge unverzichtbar. Mit "Citavi" lassen sich rasch und bequem Literaturlisten mit Hunderten von Titeln generieren, die aber weniger wert sind als fünfzehn tatsächlich gelesene und besprochene Studien. Eine gut ausgewählte Sammlung enthält ältere und neuere Arbeiten, um neben dem aktuellen Diskussionsstand die großen Wegmarken und Linien der Forschung zu markieren. Sie bietet eine orientierende Einleitung, ein Register und ggf. bibliographische Aktualisierungen.
Die WBG hat dankenswerterweise "Neue Wege der Forschung" im Paperback aufgelegt; seit 2007 wurden dort nützliche Anthologien etwa zur antiken Sklaverei oder zu Justinian publiziert. Leider scheint der Verlag seiner Idee nicht recht zu trauen; nur sporadisch erscheinen neue Bände. Konsequenter verfahren hier die großen englischsprachigen Verlage mit ihren Reihen von "Readings". Die vorliegende Sammlung stellt in mancherlei Hinsicht ein modernes Gegenstück zum WdF-Band "Römische Geschichtsschreibung" (Darmstadt 1969, hrsg. von Viktor Pöschl) dar.
Einleitend (1-6) skizzieren die Herausgeber - höchst selektiv - einige Etappen der Forschungsgeschichte; besonders interessant sind hier die Bemerkungen zu Ettore Pais (1856-1939), der nach anfänglich scharfer Skepsis gegenüber der Glaubwürdigkeit der Tradition im Laufe der Zeit immer konzilianter wurde. In der Tat, wer vom frühen Rom erzählen und wie Pais am Ende sogar nationalen Sinn stiften möchte, muss dem Tradierten anders gegenübertreten als ein rein kritisch und analytisch verfahrender Historiker. Pais ist hier mit einer frühen quellenkritischen Studie zur Konstruktion der Erzählung von den 307 Fabiern am Cremera-Fluss nach dem Vorbild der Spartaner an den Thermopylen vertreten.
Die dreizehn nachgedruckten, daher hier nicht einzeln zu referierenden Aufsätze stammen aus den Jahren 1906 bis 2004, neun davon aus den letzten fünfundzwanzig Jahren. Sie spiegeln die überwiegende Richtung in der Forschung, eher nach der Formierung der historischen Tradition als nach den darin vielleicht eingekapselten realen Verhältnissen und Ereignissen zu fragen. Es gibt zwei Ausnahmen: Andrea Carandini ("The Myth of Romulus and the Origins of Rome", 17-34, zuerst italienisch 2003) sucht am falschen Gegenstand und auf der Basis einer von der übrigen Forschung ganz überwiegend abgelehnten Kurzschaltung zwischen archäologischen Befunden und literarischen Erzählungen zu einer Anschauung des ältesten Rom zu gelangen. Und Tim Cornell sieht in der von ihm auf 339/334 v.Chr. datierten lex Ovinia mit guten Gründen die entscheidende Emanzipation des Senats vom Konsulat, die dazu führte, dass fortan die Senatoren als kontinuierlich agierendes und unabhängiges Kollektiv die Richtlinien der Politik bestimmten (207-237, zuerst 2000). Auf der Ebene der Quellenkritik stellt Cornell die Bedeutung der antiquarischen Überlieferung heraus.
Die Beiträge bieten meist traditionsgenetische Fallstudien: zu prominenten Königen (Romulus; Numa; Servius Tullius; die Demaratos-Genealogie; Lucius Brutus), zu Highlights der frühen Republik (Fabier an der Cremera; Landinitiative des Spurius Cassius) oder zu Institutionen (Senat; Kolonisation). Auch Mechanismen bei der Entstehung von Überlieferung werden thematisiert (Aitiologie; familiale Handlungsmuster; anachronistische Rückprojektionen späterer politischer Konstellationen und Konflikte). Die Rolle des größeren italisch-griechischen Kontextes ist allgemein anerkannt. Für die endgültige Um- und Neugestaltung der Tradition, wie sie uns dann bei Vergil, Livius und Dionysios von Halikarnassos entgegentritt, entscheidend waren die von Varro, Cicero und Augustus geprägten knapp hundert Jahre und der "wider intellectual process of rediscovery and systematization of the past" (14); in diesem Sinne beschließen Elizabeth Rawsons bekannter Überblick "Cicero the Historian and Cicero the Antiquarian" (259-283, zuerst 1972) und Harriet Flowers Fallstudie "The Tradition of the Spolia Opima: M. Claudius Marcellus and Augustus" (285-320, zuerst 2000) den Reigen. Die Unfestigkeit der Überlieferung wird v.a. in R.T. Ridleys Aufsatz zu Servius Tullius (83-128, zuerst 1975) und in M. Crawfords kurzem, aber erhellendem Stück "Roman History of Roman Colonization" (201-206, zuerst 1995) betont.
Jede Auswahl für einen im Umfang begrenzten Band ist naturgemäß subjektiv und muss Wünsche offenlassen. Leider gibt es keinen eigenen Beitrag zum Problem der mündlichen Überlieferung, wie es etwa in der Kontroverse zwischen Jürgen von Ungern-Sternberg und Dieter Timpe diskutiert wurde. [2] Das ist umso bedauerlicher, als z.B. Michel Humm (über Numa und Pythagoras, 35-51, zuerst 2004) die Formierung der Tradition zu seinem Gegenstand ins 4. Jahrhundert setzt, als es noch keine römische Literatur gab. Überhaupt fehlen Studien aus der Feder deutschsprachiger Gelehrter, während immerhin vier ursprünglich italienisch- und zwei französischsprachige Aufsätze hier in Übersetzung erscheinen.
Die zitierte Literatur wurde auf die konsolidierte Gesamtbibliographie des Bandes umgestellt (321-358). Sehr hilfreiche Addenda zu jedem Aufsatz, meist von den Herausgebern beigesteuert, nennen und referieren neuere Literatur zum jeweiligen Thema; den Schluss bildet ein Register (360-372). Insgesamt liegt hier eine gelungene und in der Gestaltung nachahmenswerte Sammlung vor.
Anmerkungen:
[1] Vgl. Jürgen Malitz. Römertum im "Dritten Reich": Hans Oppermann, in: Peter Kneissl / Volker Losemann (Hgg.): Imperium Romanum. Studien zu Geschichte und Rezeption (FS Karl Christ), Stuttgart 1998, 519-543.
[2] Jürgen von Ungern-Sternberg: Überlegungen zur frühen römischen Überlieferung im Lichte der Oral-Tradition-Forschung, in: ders. / Hansjörg Reinau (Hgg.): Vergangenheit in mündlicher Überlieferung (Colloquium Rauricum), Stuttgart 1988, 237-265; Dieter Timpe: Mündlichkeit und Schriftlichkeit als Basis der frührömischen Überlieferung, in: ebd., 266-286.
Uwe Walter