John Sabapathy: Officers and Accountability in Medieval England 1170-1300, Oxford: Oxford University Press 2014, XVI + 312 S., ISBN 978-0-19-964590-9, GBP 60,00
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Der Unterschied zwischen der deutschen und der englischen Verwaltungsgeschichte des Mittelalters lässt sich bereits daran erkennen, dass jede deutsche Übersetzung für die titelgebenden "Officers" in Sabapathys Studie in einen Anachronismus führt: "Beamte" oder "Funktionäre" lassen an den modernen Staat denken, sie als "Kleriker" zu bezeichnen würde aber den Blick verengen, denn Sabapathy untersucht sowohl geistliche als auch weltliche Personen, die nicht nur vom König, sondern auch vom Papst, von Grundherren oder von den Stiftern eines Colleges Aufträge erhalten hatten, über deren Ausführung sie Rechenschaft abzulegen hatten. Sie sollen hier unspezifisch, aber dafür möglichst wenig anachronistisch als Verwalter bezeichnet werden.
Sabapathy erweitert somit den Fokus der Verwaltungsgeschichte erheblich und zeigt, welche Relevanz die Frage nach der Rechenschaftspflicht in verschiedenen Bereichen der Gesellschaft erhielt. Die Bedeutung ihrer Entstehung im Europa des 12. bis 14. Jahrhunderts wurde schon verschiedentlich hervorgehoben: So kann man regelmäßig eingeforderte Rechenschaft als Grundlage für Kalkulationen und damit für den Kapitalismus der Neuzeit ansehen [1] oder argumentieren, dass die Rechenschaftspflicht Vorstellungen eines übergeordneten Interesses gefördert und damit die Entstehungen des Konzepts des Allgemeinwohl erleichtert habe. [2] Sabapathy geht es nicht um solche letztlich schwer nachweisbaren Großthesen. Stattdessen liefert er eine farbig erzählte, quellennahe, gut strukturierte Studie dazu, auf welchen Ebenen die Rechenschaftspflicht im hochmittelalterlichen England etabliert wurde und welche Probleme und Lösungen in der Praxis auftraten.
Dabei arbeitet Sabapathy für jede Gruppe von Verwaltern spezifische Problemlagen und Herausforderungen bei der Umsetzung der Rechenschaftspflicht heraus. Anhand der Bailiffs und Stewards, der grundherrlichen Verwalter, zeigt Sabapathy, wie im Verlauf des 13. Jahrhunderts anstelle der Verantwortlichkeit (responsibility) die Rechenschaftspflicht (accountability) zur Norm des Handelns wurde. Die Sheriffs, die die Counties im Namen des Königs verwalteten und Abgaben einzogen, waren zwar in fiskalischer Hinsicht in so ausgefeilter Weise rechenschaftspflichtig wie nirgendwo sonst auf dem Kontinent. Zu moralisch verantwortlichem Handeln versuchten die Könige sie jedoch erst zu bewegen, als sie von den Rebellionen des 13. Jahrhunderts dazu gezwungen wurden. Auch Bischöfe wurden zunehmend zur Rechenschaft gezogen. Dabei ging die Initiative von der Öffentlichkeit aus (public interest), die ihre Beschwerden vorbringen konnten. Die Konsequenzen daraus bestimmte jedoch der Papst. So konnte die Wahrung der Autorität von Papst und Bischof verbunden werden mit der Berücksichtigung lokaler Standards. Die Vorsteher (wardens) von Colleges standen vor der Herausforderung, die langfristigen Ziele des Stifters des Colleges zusammenzubringen mit den kurzfristigen Interessen der aktuellen Mitglieder und dabei die Verantwortung für die Mitglieder zu übernehmen, ohne sich dafür auf eine hierarchisch klar herausgehobene Position stützen zu können.
Sabapathy schließt sein Buch mit der Erörterung von Gründen und Folgen der Durchsetzung von Rechenschaftspflicht. Die Gründe, so betont er mehrfach und völlig zu Recht, ließen sich nicht finden, indem man nach Vorgängern suche, sondern indem man analysiere, welche Funktion die Rechenschaftspflicht erfüllt habe, denn nur so ließe sich erklären, warum sie sich durchgesetzt habe: Erstens habe eine Zunahme an Institutionen die Rechenschaftspflicht notwendig gemacht, zweitens habe das scholastische Denken es erst möglich erscheinen lassen, die Wahrheit über etwas herauszufinden, und drittens habe die Selbstreflexion der Menschen in öffentlichen Positionen (König, Grundherr etc.) über ihre Verantwortlichkeit für ihre Untergebenen den Ausschlag gegeben, dass die Rechenschaftspflicht tatsächlich in der Praxis umgesetzt wurde. Diese Analyse bleibt sehr knapp, Sabapathy suggeriert hier eher eine Kausalität als dass er sie genau nachweisen würde. Allerdings bildet die Frage nach den Gründen der Rechenschaftspflicht nicht das Thema seines Buches. Zwei Wirkungen der Rechenschaftspflicht skizziert Sabapathy kurz. Zum Ersten führte die Rechenschaftspflicht dazu, dass die Ansprüche an ein Amt formuliert wurden und diskutiert werden konnten. Die Rechenschaftspflicht schuf in diesem Sinne erst das Amt. Zum Zweiten stellte sie Regeln zur Konfliktlösung bereit.
Vier Themen ziehen sich wie rote Fäden durch das Buch und verbinden die Einzelstudien. Erstens muss unterschieden werden zwischen der Verantwortlichkeit (responsibility) und der Rechenschaftspflicht (accountability) eines Verwalters. Verantwortliches Handeln basiert auf internalisierten Normen und bemüht sich, soziale Erwartungen zu erfüllen. Rechenschaft legt man hingegen über die Einhaltung externalisierter Regeln ab. Letztere wird vor allem gefordert, wenn kein Vertrauen besteht, dass die Verwalter von sich aus verantwortlich handeln. Zweitens darf die Wirkmacht der Praxis nicht unterschätzt werden. Normgebung reagierte häufig auf Veränderungen in der Praxis. Drittens sollte nicht vergessen werden, dass die Entstehung der Rechenschaftspflicht mehr enthält als nur die Vorgeschichte des modernen Staates. Viertens zeigen die sporadischen Vergleiche mit der Entstehung der Rechenschaftspflicht in anderen Ländern, insbesondere in Frankreich und Italien, dass ähnliche Probleme entsprechend ähnlich gelöst wurden. England bildete keinen Sonderfall in der europäischen Entwicklung, sondern zeigte eine regional kolorierte Varietät eines europäischen Phänomens.
Diese Vielfalt an interessanten Ergebnissen hätte sich eventuell im Rahmen der Neuen Institutionentheorie noch zu einer übergreifenden These zusammenführen lassen. Sabapathy lehnt diesen Ansatz explizit ab, da er ihn auf die Neue Institutionenökonomik verkürzt. Institutionentheorie in einem weiten Sinne aber beschäftigt sich genau mit der Frage, die sich auch Sabapathy stellt, nämlich dem Zusammenspiel von Regeln, Normen und Ideen. [3] Die Differenzierung zwischen Praktiken und Organisationen, die aus Praktiken entstehen, hätte Sabapathys Anliegen stützen können, keine Geschichte der Staatswerdung zu erzählen, da sie verdeutlicht hätte, dass unter Institutionen nicht immer Körperschaften zu verstehen sind. Auch die für die Verwaltungsgeschichte relevante Frage, wie aus Praktiken Organisationen werden, lässt sich nur differenziert darstellen, wenn man zwischen beiden unterscheidet.
Insgesamt präsentiert Sabapathy gut strukturiert zahlreiche interessante Ergebnisse, die die Geschichte der mittelalterlichen Verwaltung auf vielen Ebenen vertiefen und um viele Aspekte bereichern, insbesondere indem er den Fokus weit über die Geschichte der Staatswerdung hinaus vergrößert und die wichtige Rolle von Praktiken betont.
Anmerkungen:
[1] Bruce G. Carruthers / Wendy Nelson Espeland: Accounting for Rationality: Double-Entry Bookkeeping and the Rhetoric of Economic Rationality, in: The American Journal of Sociology 97 (1991), 31-69.
[2] Stuart Burchell / Colin Clubb / Anthony G. Hopwood: Accounting in its Social Context: Towards a History of Value Added in the United Kingdom, in: Robert Henry Parker / Basil S. Yamey (eds.): Accounting History. Some British Contributions, Oxford 1994, 539-544.
[3] W. Richard Scott: Institutions and Organizations. Ideas and Interest, Los Angeles 32008.
Ulla Kypta