Harald Wolter-von dem Knesebeck / Joachim Hempel (Hgg.): Die Wandmalereien im Braunschweiger Dom St. Blasii, Regensburg: Schnell & Steiner 2012, 340 S., zahlr. Farbabb, 1 CD-Rom mit zus. Abb., ISBN 978-3-7954-2548-7, EUR 69,00
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Dieses Buch war überfällig: Einer der umfangreichsten Wandmalereizyklen des 13. Jahrhunderts mit einer geradezu entmutigend komplizierten Freilegungs- und Restaurierungsgeschichte wird endlich umfassend greifbar. Dafür muss man den Herausgebern und Autoren zunächst einmal dankbar sein. In gut gedruckter Aufmachung, mit einem systematisch geordneten Bildteil von zumeist hervorragender Qualität (verunglückt ist die Farbbearbeitung im Falle der Krypta: Taf. 277-281) und ergänzt von einer beigebundenen CD-ROM mit weiterem Bildmaterial erschließt die Publikation einen Bestand, um den die Forschung trotz seiner stets erkannten Qualität und Bedeutung lange einen Bogen gemacht hat, letztlich wohl aus Angst vor den Tücken der Überlieferung.
Und dazu bestand durchaus Anlass: Nach barocker Übertünchung kam es schon 1845, und damit schicksalhaft früh, zu einer unsachgemäßen Freilegung, deren hektische Umstände des großen Übels Anfang waren. Zwar profilierte sich der verantwortliche akademische Maler Heinrich Brandes, damals Galerieinspektor des Herzoglichen Museums, durch die Anfertigung großformatiger Pausen, die heute eine wichtige Quelle darstellen, doch kam es zu großflächigen Übermalungen mit durchwegs nachgezogenen Konturen und erneuerten Vergoldungen, im Fall des neu verputzen Nordarms des Querhauses ab 1854 sogar zu einer kompletten Neuschöpfung. Kritik der Zeitgenossen ist seit 1872 belegt (Carl Schnaase: 246), eine erneute lasierende Überarbeitung erfolgte schon 1876-1881 im Zuge der historistischen Neuausmalung des Langhauses durch August von Essenwein. Die von beiden gewählte Ei-Tempera machte Probleme in der Alterung, was bereits 1895 eine erneute Intervention durch den Hof- und Dekorationsmaler Adolf Quensen nach sich zog. Dieser setzte nun auf eine Wachskonservierung und provozierte damit binnen weniger Jahrzehnte ein extremes Nachdunkeln der Malereien, das 1937-1940, im Zuge der verhängnisvollen Umgestaltung des Doms zur nationalen Weihestätte, zu einer den Bestand erneut belastenden Entrestaurierung führte. Nach der Abnahme älterer Übermalungen, der Überfassung des nördlichen Querarms und dem Ersatz von Essenweins Langhauszyklus durch Sgraffiti im Zeitstil hat Rudolph Curdt die Konturen der mittelalterlichen Malereien erneut nachgezogen und die Flächen diesmal mit einer Kaseinfixierung traktiert, deren Oberflächenspannung schon 1952-1954, nach der Eliminierung der faschistischen Ausstattung, eine weitere Entrestaurierungskampagne auslöste. Reste der Öl-Wachs-Konservierung von Quensen wurden mechanisch abgetragen, die Ölvergoldungen von Brandes systematisch entfernt, Ergänzungen auf Kittungen und Neuputzflächen durch gestrichelte Strukturen abgesetzt, die Neuschöpfung von Brandes im nördlichen Querarm nun ihrerseits freigelegt, aber auch die Westwand des südlichen Querarms großflächig neu verputzt und ergänzt. Kein Wunder, dass das Ergebnis die Kunstgeschichte der Nachkriegszeit verunsichert hat. Erst 1994/97 kam es zu systematischen Dokumentationen des Status quo, die 2008/11 in ergänzende Untersuchungen zur mittelalterlichen Maltechnik sowie in Notsicherungen und Schadensmonitoring mündeten. Deren Ergebnisse bilden Quelle und Motivation der hier angezeigten Veröffentlichung.
Die Herausgeber nahmen den sehr soliden, aber keineswegs systematischen Untersuchungsbericht von Anja Stadler (305-325) und ergänzten ihn durch eine Aufsatzsammlung, die wesentliche Aspekte des komplexen Themas behandelt: Auf einen einleitenden Essay zu Baugeschichte und Architektur (Harmen H. Thies, 15-27) folgen Beiträge zu den Siegeln des Kollegiatstifts (Barbara Klössel-Luckhardt, 29-42), zu den in liturgischen Handschriften fassbaren kultischen Traditionen (Patrizia Carmassi, 45-59), zur Restaurierungsgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert (Peter Springer, 243-275), zur Restaurierung der großformatigen Pergamentpausen (Hildegard Homburger, 277-279), Quellenkritisches zu der umstrittenen, wohl fälschlich für den Künstler in Anspruch genommenen monumentalen Inschrift eines Johannes Gallicus (Christian Schuffels, 281-287, siehe unten) sowie eine kritische Neuedition der Inschriften (Sabine Wehking und Christine Wulf, 289-303). Im Zentrum aber steht eine souveräne Würdigung des Bestandes durch Harald Wolter-von dem Knesebeck, der Forschungsbericht, Datierungsfragen und stilgeschichtliche Einordung mit einer konzisen Bildbeschreibung nebst ikonografischen Hinweisen verbindet (165-240). Damit ist theoretisch das derzeit erreichbare Material versammelt, um sich ein Bild von dem herausragenden Bestand und seinen Problemen zu machen. In der Praxis dürfte mancher Benutzer vor der Vielzahl der Informationen kapitulieren, die man für jedes Bildfeld kollationieren muss, um die Tragfähigkeit der Argumentationsbasis zu überblicken. Wer sich beispielsweise für einen der beiden bemerkenswert frühen Apostelcredo-Zyklen und deren Zuordnung von Aposteln und Glaubenssätzen interessiert (Vierungsgewölbe: Taf. 83-107, Südquerhaus: Taf. 162 und 179-181), muss auch den Essay zu den Inschriften gründlich genug studieren, um zu begreifen, dass der Inschriftenbestand von den Bearbeitern nicht nur komplett dem 19. Jahrhundert zugewiesen, sondern in den seinerzeit freigelegten Relikten auf das Spätmittelalter zurückgeführt wird (294), für die ikonografischen Konzepte des 13. Jahrhunderts mithin keinerlei Relevanz hat. [1]
Abhilfe könnte hier wohl ein Modell bieten, das sich zur Edition des Glasmalereibestandes in den Corpus Vitrearum-Bänden bewährt hat: die Gegenüberstellung von Abbildung und zeichnerischer Bestandskartierung mit differenzierten Schraffen für die unterschiedlichen Ergänzungsphasen. Doch muss bezweifelt werden, dass dies derzeit bereits für den Braunschweiger Dom zu leisten wäre, da die einzig vorliegende Dokumentation der restauratorischen Untersuchung nur sehr punktuelle Einblicke in den Bestand gewährt, mit allzu wenigen Querschliffen auskommen muss und in deren Interpretation auch noch manche Unsicherheit erkennen lässt (315f.). Ganz offensichtlich war das Budget für die Bestandsanalyse viel zu klein, sodass ganz wesentliche Fragen zur Maltechnik wie etwa die nach dem Gebrauch von Schablonen, auf deren Verwendung Einritzungen hindeuten könnten (316, Abb. 22), offen blieben. Auch dass nicht geklärt werden konnte, ob die vier Halbfiguren, die am Gewölbe des südlichen Querhauses in den Thronarkaden sowie neben dem Thron Christi und Mariens erscheinen (Taf. 116) alter Bestand sind, erscheint unbefriedigend (214). [2] Da wäre mit angemessenem Aufwand fraglos noch mehr rauszuholen.
Trotz solcher Einschränkungen hinsichtlich der Bestandskritik ist mit Wolter-von dem Knesebeck festzuhalten, dass es sich um den größten zusammenhängenden Wandmalereibestand seiner Zeit in Deutschland handelt, für den der Autor eine Datierung in den 1240er-Jahren, also in einigem Abstand zur Schlussweihe von 1226, plausibel machen kann. In diesem Sinne ist der Nachweis eines bauzeitlichen Pietra rasa-Dekors der Wandoberflächen, der offenbar noch eine vereinheitlichende graue Tünchung erhalten hat, bevor der die Malerei tragende Putz aufgebracht wurde (312f., mit Abb. 9-11), eine sehr wesentliche neue Erkenntnis, mit der die Diskrepanz zwischen dem Weihedatum und dem stilgeschichtlichen Ort der Wandmalereien im Umfeld von Wolfenbütteler Musterbuch, Hildesheimer Decke und Goslarer Evangeliar erklärt werden kann (177-186). Diesem Ansatz entspricht die ikonografische Analyse mit ihrem frühen Thomas Becket-Zyklus unter den Heiligenviten der Dompatrone im Chorquadrat (Taf. 72-80, mit freien Ergänzungen von Brandes und Herzig) ebenso wie die erst neuerdings nachgewiesene parallele Verwendung des Vorlagenmaterials für einen Apostel des südlichen Querarms (Taf. 179) und für den Propheten Jesaia in der Liebfrauenkirche zu Halberstadt (182, Abb. 16). Nützlich ist zudem die Verankerung der Bildanalyse in einer schematischen Visualisierung der liturgischen Topografie (166, Abb. 1), die der spekulativen Verknüpfung mit einem unbekannten Grab Herzog Ottos des Kindes († 1252) im südlichen Querarm gar nicht bedarf (240), überzeugend auch der Verweis auf einen Wechsel von Erzählformen wie auf unterschiedliche Stilhöhe der zum Teil heterogenen Einzelteile anstelle überholter Versuche einer Händescheidung (230). Von einiger Tragweite sind die Argumente von Christian Schuffels, in dem inschriftlich mit dem Bau verknüpften Johannes Gallicus (Taf. 260) einen seit 1195 urkundlich fassbaren Hildesheimer Domherren zu sehen, der sich nicht als Maler, sondern als Mitglied der Hofkapelle Ottos IV. die Verdienste um solch prominente Memoria erworben hätte (287).
Fehler bleiben bei einem so großen Unternehmen nicht aus, im vorliegenden Fall sind es deutlich mehr als ein sorgfältiges Lektorat zulassen dürfte, nicht nur im Fließtext, sondern auch in den Bildunterschriften (Taf. 137f., 178, 184ff.), inhaltlich relevant ist davon aber nur das Wenigste: 182: lies Juden- statt Johannesgruppe; 206 lies Wolf statt Fuchs; 291, zu Abb. 1: lies ASPICIT(IS) statt ASPICIET(IS). [3] Der Freude über den Zugewinn an soliden Informationen zu einem komplexen Forschungsproblem tut dies keinen Abbruch.
Anmerkungen:
[1] Das Modell bleibt unbefriedigend, da der notwendigerweise vorauszusetzende Schriftbestand der Entstehungszeit, der im späten Mittelalter durchaus bereits überarbeitungsbedürftig gewesen sein mag, außen vor bleibt. Auch hier fehlt weitere Differenzierung der restauratorischen Analyse.
[2] Inhaltlich vielleicht doch eher als vier weitere Propheten anzusprechen, mit denen das Programm von acht großen Prophetenfiguren in den Zwickelflächen zur Zwölfzahl ergänzt würde?
[3] Der Vulgatatext mit seiner partizipialen Konstruktion ist hier offensichtlich bewusst eingekürzt.
Matthias Exner