Hans Heinz Holz: Leibniz. Das Lebenswerk eines Universalgelehrten, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2013, 314 S., ISBN 978-3-534-26267-0, EUR 79,90
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Diese posthum veröffentlichte Gesamtdarstellung des, wie es im Untertitel heißt, "Lebenswerk[es]" eines der genialsten Geister der deutschen Wissenschaftsgeschichte und sicherlich eines der bedeutendsten deutschen Philosophen vor Immanuel Kant dokumentiert zugleich einen beachtlichen Teil des "Lebenswerkes" von Hans Heinz Holz. Der allgemein als marxistischer Philosoph etikettierte Wanderer zwischen West und Ost in der Zeit des Kalten Krieges hatte unter anderem bei Friedrich Bollnow studiert, war 1956 in Leipzig bei Ernst Bloch mit einer Arbeit über "Herr und Knecht bei Leibniz und Hegel" promoviert worden und blieb in der akademischen Philosophie im Westen deshalb nicht unumstritten.
Seine jahrzehntelange intensive Beschäftigung mit Leibniz schlug sich neben einer Anzahl von Aufsätzen in mehreren Gesamtdarstellungen (Stuttgart 1958, Leipzig 1983, Darmstadt 1992), in umfangreichen Kapiteln seiner mehrbändigen Problemgeschichte der Dialektik und in zahlreichen Bänden nieder, in denen er in deutscher Übersetzung sowohl philosophische als auch politische Schriften von Leibniz herausgab. Nicht zuletzt die Erfahrung der nationalsozialistischen Barbarei und des Weltkrieges mögen seine "emotionale Nähe" (so Holz nach dem Zeugnis des Herausgebers Jörg Zimmer, 311) zu einem Philosophen begründet haben, der in die letzten Jahre des Dreißigjährigen Krieges hineingeboren worden war und dessen philosophische und politische Ideen 1946 kurzzeitig die Aufmerksamkeit des nach neuer Orientierung suchenden Deutschland hatten wecken können. [1]
In diesem Jahr erfährt Holz' Interesse an Leibniz einen entscheidenden Anstoß durch einen Vortrag, den der Hamburger Philosoph Josef König über "Das System von Leibniz" gehalten hat. [2] Die vermeintliche Disparatheit zwischen der Leibnizschen Logik als einer Vorläuferin der mathematischen Logik und Hegels "spekulativer Logik" wandelt sich in Königs Interpretation zu einer "Übereinstimmung der logischen Grundformen" beider Systeme, etwa wenn bei Leibniz der Kraft das "in-Eines-Werdens von klar Unterschiedenem" zugesprochen werde und so die "logische Grundform" seines Systems (im Hegelschen Sinne) die "Form des übergreifenden Allgemeinen" genannt werden könne. [3] Dem widmet sich Holz im 1. Teil ("Philosophie") seines Buches, besonders in dessen Kernbereich, den beiden Kapiteln "Die Dialektik" und "Die spekulative Transformation der Philosophie bei Leibniz und Hegel", alles zusammenfassend, was er auch schon in früheren Arbeiten hierzu veröffentlicht hatte. [4]
Anders als bei Bertrand Russell und Louis Couturat, für die Leibniz' nachhaltige philosophische Leistung sich in seinen Arbeiten zur Logik und Mathematik erschöpft, während die Metaphysik als eine für die gegenwärtige Zeit eher irrelevante Größe zu gelten habe, wird für Holz nahezu jeder Bereich des Wirkens von Leibniz zu einem Bestandteil der Welterschließung, wie sie in Leibniz' Metaphysik, besonders seiner Monadologie, ihre logisch-ontologische Grundlage gefunden hat. Diese kann Holz nur im Sinne einer komplexen Dialektik von Substanz und "Struktur" interpretieren, wobei letzterer Begriff bei Leibniz selbst in diesem Zusammenhang nicht vorkommt, worauf Holz hinweist (41). Rein formal bedeutet er den "Inbegriff aller möglichen wechselseitigen Beziehungen, die die Glieder eines gegebenen Zusammenhangs miteinander verbinden und die eben diese Glieder ihrem Wesen nach bestimmen" (41). Anders aber als in modernen Strukturtheorien bleibt Leibniz, wie Holz ihn interpretiert, nicht bei isolierten ontischen Teilzusammenhängen stehen. In seiner Metaphysik sei Substanz das, was als "stoffliches Gliedstück in die Struktur eingeht, zugleich aber auch das, was als Totalität der Gliedschaften selbst Struktureinheit ist" (42). Diese Dialektik ist für Holz selbst "Strukturmerkmal", insofern die Individuen, die in komplexe, nicht widerspruchsfreie Beziehungen eingebunden sind, ohne die Welt als übergeordnete höchste Ganzheit nicht wirklich sein könnten, wenn das "Wesen des Seins vom Wesen der Einheit her" (40f.) gedacht werde (44f.). In der "strukturellen Ansicht des Seienden" wird dessen substantieller Charakter aufgehoben, während "umgekehrt die Ansicht des Seiendes als Substanz sein Struktursein aufhebt". Letztlich müsse aber "beides in einem gesehen werden" (45). Diese Dialektik der Einheit aller erscheinenden Mannigfaltigkeit als Einheit der Welt sieht Holz in der Leibnizschen Monadologie manifestiert, deren Erörterung er weitere Kapitel widmet (45-75). So habe Leibniz "als erster neuzeitlicher Denker das logische Schema und das ontologische Prinzip der Realdialektik des Seienden zu entwerfen versucht und damit die Voraussetzungen für die Ausbildung der transzendentalen Dialektik bei Kant, der Naturdialektik bei Goethe, der logischen und geschichtlichen Universaldialektik bei Hegel" geschaffen (40).
So wenig hier die Argumentationsschritte im Einzelnen wiedergegeben werden können, so muss es auch im Blick auf den 2. Teil des Buches ("Wissenschaftliche und gesellschaftliche Praxis" [5]) versagt bleiben, die Fülle der dort beschriebenen Gebiete hier zu benennen. Holz analysiert die Leibnizsche Konzeption einer enzyklopädischen Wissenschaft (187-215) ebenso wie deren Umsetzung in Sprachforschung, Technik, Medizin und schließlich überhaupt jegliche Gesellschafts- und Bildungspolitik (257-285). Er beschreibt Leibniz' Beitrag zur Methodik der Historiografie, die den Blick auf die Universalgeschichte (221f.) einschließt, seine lebenslangen Bemühungen um die Einheit der getrennten Konfessionen (223-230) und selbstverständlich alles, was als Politik im engeren Sinne zu gelten hat, Leibniz' diplomatische Tätigkeiten und politischen Entwürfe (231-255). Jeden dieser Bereiche sieht Holz bestimmt von dem mit dem "monadologischen Weltbild" bestehenden engen Zusammenhang, der als "tragfähige Basis der einzelwissenschaftlichen Forschung" (222) wirksam wird oder, etwa im Umgang mit widerstreitenden Interessen, mit völlig kontrovers erscheinenden religiösen Positionen eine vernunftgeleitete Einsicht in das zugrundeliegende Gemeinsame herbeiführt, ermöglicht durch das der Modallogik geschuldete Wissen um Kompossibilität und das der Metaphysik entnommene Prinzip der (universellen) Harmonie (102, 70f., 224). Wie aus einem logischen Begriff ein ontologisches Kriterium der politischen Entscheidungen bei Leibniz werden kann, zeigt Holz an Beispielen der europäischen wie der Reichspolitik (235-255), wobei auch die Elemente des ebenfalls ja in der Metaphysik gründenden christlich-naturrechtlichen Konzepts ebenso wenig unbeachtet bleiben (229) wie die Bedeutung der mathematisch kalkulierten Analyse für die politische Entscheidung.
Leibnizforscher, vor allem, aber nicht nur die Historiker unter ihnen, werden den Rekurs auf neuere Forschungsergebnisse, zum Teil ermöglicht durch den Fortgang der Akademieausgabe in den letzten drei Jahrzehnten, wohl an vielen Stellen gerade des 2. Teils vermissen, doch bleibt als ein für das Verständnis sowohl des Philosophen, wie des Gelehrten und Politikers Leibniz wesentliches Ergebnis der Arbeiten von Holz bis heute dessen Plädoyer für die Unerlässlichkeit aktuell, Leibniz' Wirken im Raum der Wissenschaften und des Politischen von seiner Metaphysik her zu verstehen, den "Zusammenschluß seiner philosophischen mit seinen politischen Ideen" (277) zu erkennen. Ob Leibniz damit auch einen "Hebel zur Aufsprengung bestehender Klassenschranken" (276) geliefert hat, bleibt gewiss diskussionsbedürftig. Auch wenn manches in einer solchen Interpretation in all ihren Weiterungen allzu kühn erscheinen mag, ist es doch notwendig, sich mit der detaillierten, in jedem Fall sachkundigen Argumentation des bedeutenden Leibnizforschers auseinanderzusetzen. So kann diese Monografie als dessen Vermächtnis gelesen werden, dass Leibniz' Werk bis in den Diskurs unserer Tage hinein bedenkenswert bleibe und den Dialog, auch über die engere Leibnizforschung hinaus, kritisch zu erweitern vermag.
Anmerkungen:
[1] Man vergleiche neben den anlässlich des 300. Geburtsjahres 1946 allenthalben erschienenen Sammelbänden vor allem Gerhard Krügers Vortrag im Freien Deutschen Hochstift Leibniz als Friedensstifter. Der 19-jährige Holz war damals unter den Zuhörern.
[2] In: G. W. Leibniz, Hamburg 1946, 17-45. Den Hinweis auf Josef Königs Bedeutung für Hans Heinz Holz verdanke ich Dr. Martin Lauermann (Hannover).
[3] Vgl. ebd., 19, 23.
[4] Ohnehin muss eine erhebliche, bis in die Gliederung reichende Übereinstimmung der vorliegenden Leibniz-Monografie mit früheren, besonders der 1983 bei Reclam (Leipzig) erschienenen, festgestellt werden.
[5] Auch hierin besteht Identität mit der Monografie von 1983.
Hartmut Rudolph