Peter Nitschke (Hg.): Gottfried W. Leibniz: Die richtige Ordnung des Staates (= Staatsverständnisse; Bd. 72), Baden-Baden: NOMOS 2015, 116 S., ISBN 978-3-8487-1845-0, EUR 29,00
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Die Reihe "Staatsverständnisse" genießt zu Recht ein gewisses Ansehen und darf sich, gerade weil neben dem bloßen historischen Referat laut Editorial auch nach der Relevanz früherer Ideen "für ein zeitgemäßes Verständnis des Staates im Sinne einer modernen Staatswissenschaft" (3) gefragt wird, der Aufmerksamkeit einer breiteren Leserschaft gewiss sein. Mit Peter Nitschke wurde eine geeignete Person gefunden, den politischen Philosophen, Rechts- und Universalgelehrten Leibniz in dieser Reihe zu präsentieren, hatte sich der Vechtaer Politikwissenschaftler doch schon seit seiner Münsteraner Habilitationsschrift mehrfach mit Leibniz befasst, zudem in derselben Reihe zwei Bände über Platon und Hugo Grotius herausgegeben. Umso überraschender ist der ambivalente Eindruck, den die Aufsatzsammlung hinterlässt. Allein schon die editorische Arbeit lässt daran zweifeln, dass dafür die erforderliche Zeit aufgewendet wurde.
Dies beginnt bereits mit der Abbildung einer Medaille auf dem Buchumschlag, bei der es sich um "Leibniz' eigenen Entwurf [...] zur Darstellung des dynamischen [sic!] Systems" (4) handeln soll. Tatsächlich ist es aber eine Abbildung von 1724 [1], die auf Leibniz' Medaillenentwurf mit einer Darstellung des dyadischen oder binären Zahlensystems von 1697 zurückgeht und bei der die lateinischen Motti ins Deutsche übersetzt wurden. [2] Zuweilen stimmen die genannten Referenzen nicht mit dem am Ende eines jeden Beitrags aufgeführten Literaturverzeichnis überein (etwa im Falle von Platons Politeia, 39-41), zuweilen sind sie offensichtlich falsch (etwa die Hinweise auf Riley, 52 f.) oder sinnlos, wenn etwa die problematische Aussage, Leibniz' "Form der Metaphysik erklärt zu Gott gar nichts, ist damit auch keine Theologie, sondern eine Erklärung über den Menschen selbst", mit dem pauschalen Hinweis auf die von Herbert Herring 1985 besorgte Ausgabe und Übersetzung des Discours de métaphysique "belegt" wird (25). So ehrenvoll es auch ist, Leibniz' Praefatio zum Codex juris gentium diplomaticus (1692) nach der Erstausgabe zu zitieren, so wäre doch auch der Hinweis auf die seit 2004 vorliegende kritische Edition des Textes in der Leibniz-Akademieausgabe [3] hilfreich gewesen. Ähnliches gilt für den Nachweis der Chinaschrift Novissima sinica (1697) durch eine unzureichende Übersetzung, obwohl seit 2008 der vollständige Text zuverlässig ediert vorliegt. [4] Auch der Umgang mit dem Lateinischen gerät zuweilen unvollkommen (vgl. etwa Seite 64 und 103: "reduziert man die justitia auf das lex", oder "Ein solches Juris foecialis ist für Leibniz"). [5]
Doch auch der Umgang mit der Sache selbst, Leibniz' Verständnis des Staates, hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Peter Nitschke erklärt zu Beginn seiner Einleitung, es gebe keine "Staatstheorie" von Leibniz. Die zu Lebzeiten publizierten Schriften [6] seien "Abhandlungen", die "allesamt Grundfragen der Logik, der Ethik und bestenfalls der Theologie in einem sehr anthropologisch bestimmten Format" abbildeten. "Von Politik keine Spur [7], somit auch keine dezidierte Theorie des Staates" (11). Stimmt das denn überhaupt, selbst wenn man diese angesichts des geringen Anteils der intra vitam publizierten Schriften am Leibnizschen Gesamtwerk sachlich äußerst problematische Einschränkung akzeptiert? Haben Autoren wie Erwin Ruck [8] oder sein Rezensent Otto von Gierke [9], Carl J. Friedrich [10] und Karl Herrmann [11] über eine Chimäre geschrieben? Nitschkes Einleitung (11-31) selbst, ein Blumenstrauß unterschiedlicher Beobachtungen und Feststellungen zu Leibniz' Wissenschaftsmethode, Metaphysik, Ethik und Rechtslehre, enthält - oft eher andeutend - mehrere Bemerkungen, darunter auch eine Paraphrase sämtlicher Paragraphen der Monadologie (18-24), die auf vieles thematisch Relevante hinweisen und damit Leibniz als einen politischen Theoretiker immer wieder durchscheinen lassen. Neben der gewiss diskussionswürdigen Zuordnung der Leibnizschen "politica christiana" zum "Politischen Aristotelismus" (15 und 91) finden sich auch eine Reihe merkwürdiger Aussagen, etwa, Leibniz sehe analog zur Lehre von der Dynamik "die Politik als eine Frage der Wirkung von Kräften auf einen Körper [...] an" (15). [12] Zweifellos richtige und wichtige Feststellungen, zum Beispiel, Leibniz' Umgang mit dem Theodizeeproblem sei "ein vollkommen rationalistisches Vorgehen", stehen neben erstaunlichen Sätzen wie, "[Leibniz'] Form der Metaphysik erklärt zu Gott gar nichts, ist damit auch keine Theologie, sondern eine Erklärung über den Menschen selbst" (25).
Wie die Einleitung leidet das ganze Buch an einem äußerst ambivalenten Erscheinungsbild, was teilweise die thematische Relevanz, die Schlüssigkeit der Argumente und teilweise auch den Umgang mit dem staatstheoretischen und politischen Gehalt der Leibnizschen Ideen betrifft. So versucht William F. Drischler unter dem Titel "Souveränität und Staat bei Leibniz und Hobbes", im Rückgriff auf Carl Schmitt und eine sich mir nicht erschließende histori(ographi)sche Konstruktion, Leibniz' "Untergangsstrategie für die Ebene der Reichssouveränität" zu beschreiben und "[m]it Hilfe der Forschung Schmitts [...] die positiv-maritime Seite der Leibniz'schen Souveränitätsidee besser [zu] begreifen" (57). Danach jedoch enthält der Band vier kompetente und sachbezogene Beiträge. Peter Schröder weist in Leibniz' Polemik Mars christianissmus die für ihn grundlegende gegen den Voluntarismus, damit vor allem gegen Hobbes, gerichtete Bindung der Gerechtigkeit an das Gute als eine ewige Wahrheit und das bonum commune nach und beschreibt im Rückgriff auf wesentliche rechts- und moralphilosophische Traktate damit ein Kernelement der Leibnizschen politischen Philosophie. Luca Basso, der für das Staatsverständnis wesentliche Definitionen Leibniz' untersucht hat, arbeitet die Differenz zwischen Hobbes' und Leibniz' Ideen des Souveräns detailliert und unter verschiedenen Gesichtspunkten, unter anderem auch der Leibnizschen Konzeption des Naturrechts und des Widerstandsrechts, heraus. Für Leibniz ist Hobbes' Perspektive auf Europa nicht anwendbar, denn in dessen Strukturen würde die Hobbessche Souveränität zur "bloßen Anarchie" geraten. Friedrich Beiderbeck, selbst Mitherausgeber eines für das Thema höchst relevanten Sammelbandes [13], beschreibt vor dem Hintergrund der zeitgenössischen Reichspublizistik Leibniz' Interpretation der Reichsverfassung, die auf einem "eigenständigen, die Souveränität stufen- und funktionsweise aufteilenden Verständnis" basiert. Anders als Samuel Pufendorf, dessen Reichsidee eines "Systems" verbündeter Staaten Leibniz seine Vorstellung des Reiches als einer persona civilis entgegenhielt (80), besaß Leibniz' "föderativ geprägte Reichsstaatstheorie" ein "staatsrechtliches Innovationspotential" (81).
In seinem konsistent argumentierenden Schlussbeitrag "Die Leibnizsche Vision von Europa" zeichnet Peter Nitschke Leibniz als einen Vertreter des sacrum imperium, dessen Voraussetzung, die Einheit der Christenheit in Europa, da sie gerade keine Entsprechung in der faktischen Realität habe, "angesichts der Vielzahl in der Welt der Staaten" eher "idealtypisch" wirke (96). So sieht Nitschke in der Idee des sacrum imperium "eine wahrhaft prämoderne Utopie" (97). Der Souveränitätsbegriff lasse Leibniz wegen seiner Bindung nicht nur an formales Recht, sondern auch an die Macht des Potentaten als einen "Schüler Machiavellis" (99) erscheinen. Das Leibnizsche Prinzip der Souveränität ziele nicht auf die Unteilbarkeit, sondern auf die "funktionale Aufteilung auf die einzelnen Seinsbereiche, d. h. [die] Gliede[r] des Jus Foecialis" (100). Als der damaligen Zeit geschuldete Defizite sieht Nitschke den Mangel an einem klaren Staatsbild und das Fehlen eines Verständnisses von "internationalen Beziehungen zwischen den Staaten dieser Welt" (103). Gleichwohl billigt er Leibniz' Ideen eine gewisse Progressivität zu, insofern als im Blick auf Europa und den Weltfrieden "die Ordnungsfrage nur dann sinnvoll gelöst" werden könne, "wenn sie zugleich als Rechtsfrage mit der Ethik in Übereinstimmung gebracht und für eine nachhaltige Dauer angesetzt wird" (105).
Anmerkungen:
[1] Johann Christian Schulenburg: Unvorgreifflicher Vorschlag zur Vereinigung Der Fest-Zeit etc., Frankfurt/Main / Leipzig / Nürnberg 1724.
[2] Vgl. Leibniz-Akademieausgabe I,13 N. 76.
[3] Leibniz-Akademieausgabe IV,5 N. 7.
[4] Leibniz-Akademieausgabe IV,6 N. 61.
[5] Merkwürdig ist auch, dass "Méditation" im Titel der für das Gesamtthema in der Tat grundlegenden französischen Leibnizschrift Méditation sur la notion commune de la justice durchgängig als Plural präsentiert wird (39).
[6] Nitschke zählt hierzu neben dem Système nouveau de la nature (1695) und der Theodizee (1710) fälschlich auch die erstmals 1720 im Druck erschienene Monadologie.
[7] Ist den 1684 erschienene, gegen Ludwig XIV. gerichtete Polemik Mars christianissimus keine politische Schrift, und enthält Leibniz' 1677 ebenfalls im Druck erschienener Caesarinus Fuerstenerius nicht dezidiert staatspolitische Aussagen? Auf beide Schriften gehen weitere Beiträge des Bandes näher ein.
[8] Die Leibnizsche Staatsidee aus den Quellen dargestellt, Tübingen 1909 (Nachdrucke 1969 und 1987).
[9] Deutsche Literaturzeitung XXI (1910), 564-569.
[10] Philosophical reflections of Leibniz on law, politics and the state. In: Natural law forum, Notre Dame, Ind. Vol. XI (1966), 79-91.
[11] Das Staatsdenken bei Leibniz, Bonn 1958.
[12] Dort wird als Referenz für diese Aussage auf Eric J. Aiton: Leibniz. Eine Biographie (deutsche Übersetzung Frankfurt/M. und Leipzig 1991) verwiesen, in der an der genannten Stelle zwar die Dynamik abgehandelt wird, jedoch ohne jeglichen Bezug zur Politik.
[13] Friedrich Beiderbeck / Irene Dingel / Wenchao Li (Hgg.): Umwelt und Weltgestaltung. Leibniz' politisches Denken in seiner Zeit, Göttingen 2015.
Hartmut Rudolph