Hermann Wellenreuther / Thomas Müller-Bahlke / A. Gregg Roeber (eds.): The Transatlantic World of Heinrich Melchior Mühlenberg in the Eighteenth Century (= Hallesche Forschungen; Bd. 35), Wiesbaden: Harrassowitz 2013, XVI + 445 S., ISBN 978-3-447-06963-2, EUR 78,00
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Häufig erscheint die Atlantische Welt des 18. Jahrhunderts als Feld anonymer Massenbewegungen. Migration, Güter-, Waren- oder Ideenaustausch, politische Interaktion und Konfrontation sind gängige Schlagwörter, um die Verbindungen zwischen Europa und Amerika zu charakterisieren. Viel seltener tritt hingegen der einzelne Mensch hervor, der diese atlantische Welt erlebte und prägte, in ihr reüssieren oder scheitern konnte. Hauptsächlich vom Interesse an statistisch messbaren Kollektiven bestimmt, nimmt die gegenwärtige Forschung kaum noch Notiz von den Individuen. Damit vergibt sie sich die Chance, Erfahrungen aus ihrer Singularität heraus exemplarisch zu beschreiben. [1]
Der Tagungsband verfolgt daher einen Neuansatz: Sein betont biografischer Zuschnitt bricht mit der strukturgeschichtlichen Konvention, um so Neuland für Erkenntnis zu gewinnen, nämlich den atlantischen Raum aus individueller Sicht auszuleuchten. Dafür empfehlen uns die drei Herausgeber Hermann Wellenreuther, Thomas Müller-Bahlcke und A. Gregg Roeber einen religiösen Protagonisten, den lutherischen Geistlichen Heinrich Melchior Mühlenberg (1711-1787). Für die aktuelle Debatte über das deutsch-amerikanische Verhältnis im 18. Jahrhundert ist diese Wahl ebenfalls ein unkonventioneller Schritt. Denn zumindest deren europäische Seite ist immer noch von einer starken Aversion gegenüber dem Religiösen beherrscht. Oder um es mit Tim Blanning zu formulieren: Sie räumt der Religion allenfalls den undankbaren Part der "reactionary ossification" ein (zitiert nach A. Gregg Roeber, 298). [2] Es ist daher kein Wunder, dass man Mühlenberg bislang jene Aufmerksamkeit verweigerte, die er längst verdient hätte. [3]
Für welche Entwicklungen kann der Theologe als historischer Kronzeuge aufgerufen werden? - Mit dem Geistlichen aus Einbeck in Kurhannover verbinden sich drei große Themen: Erstens geht es um die Geschichte der deutschen Auswanderung nach Amerika, genauer in die Quäkerkolonie Pennsylvania, neben Neuengland wohl das wichtigste religiöse Experimentierfeld innerhalb der späteren USA. Philadelphia und Lancaster waren zusammen mit der von Salzburger Exulanten gegründeten Siedlung Ebenezer in Georgia die wichtigsten Gemeinden des frühen deutschsprachigen Luthertums in Nordamerika.
Zweitens: Als Exponent des Halleschen Pietismus gehörte Mühlenberg zur ersten Riege des transkontinentalen Luthertums. Mit ihm gelang dem landeskirchlich organisierten Protestantismus, seiner Herkunft nach ein konfessions- bzw. territorialstaatliches, also binnendeutsches Phänomen par excellence, der Sprung nach Übersee. Die Lutheraner zogen nun mit ihrer innerprotestantischen Konkurrenz, etwa den Hugenotten, den Mennoniten oder Mährischen Brüdern um Nikolaus Ludwig von Zinzendorf, gleich. An globaler "Kompetenz" konnten sie es mit Anglikanern oder Katholiken aufnehmen, auch wenn sie die universale Dimension speziell der katholischen Mission nicht erreichten. [4]
Drittens: Wie kaum eine andere Figur der atlantischen Kirchen- und Kulturgeschichte steht Mühlenberg für die komplexen Adaptionsprozesse zwischen dem Heiligen Römischen Reich und Nordamerika. Als "world traveler from the old to the new", wie ihn Conradine Eleonore Isabelle Gräfin Reuss (1719-1770) nannte (zitiert nach Karl Krueger, 267), versuchte er, die stark institutionalisierten Traditionen konfessionellen Kirchenwesens in einer nahezu staatskirchenlosen Welt zu verankern. Sein langes Leben in Amerika - von 1742 bis 1787 - konfrontierte ihn mit ganz ungewöhnlichen Herausforderungen, etwa dem stark laiengestützten System in den Kirchengemeinden, den kaum vorhandenen Infrastrukturen in "zivilisationsfreier" Wildnis, dem Konflikt mit dem dissentierenden Protestantismus um Zinzendorf. Nicht zuletzt sah sich Mühlenberg den politischen Umbrüchen infolge der Amerikanischen Revolution ausgesetzt. Sie machten aus dem stets königstreuen Welfen- und Hohenzollernanhänger einen "Vernunftrepublikaner".
Dieser vielschichtige Kontext wird in 19 Beiträgen aus Deutschland, den USA und Kanada mustergültig aufbereitet. Die Aufsätze kommen aus bewährter Expertenhand, um neben den drei Herausgebern nur einige Namen zu nennen: Hartmut Lehmann, Manfred Jakubowski-Tiessen, Mark Häberlein, Craig D. Atwood, Jan Stievermann oder Lisa Minardi sind hier versammelt. Dabei erliegt der aus einem Jubiläumsanlass, dem 300. Geburtstag von Mühlenberg im Jahr 2011, publizierte Band nicht dem häufig erratischen Stil vergleichbarer Unternehmen. Ganz im Gegenteil: Er bietet mit seiner stringenten Komposition fast so etwas wie einen Ersatz für die immer noch ausstehende wissenschaftliche Lebensbeschreibung. Geradezu monografisch gruppieren sich die Überlegungen um vier Hauptteile: Mühlenbergs Bildungskarriere und religiöse Sozialisierung in Europa ("The Formative Years", 1711-1742, 3-96), seine Ankunft in der Neuen Welt ("Moving to the New World", 97-196), seine Position innerhalb der religiösen Erweckungsbewegungen des nordamerikanischen Christentums ("The Awakening of Christians", 197-291) und sein Verhältnis zur Revolution von 1776 ("The Revolutionary World", 293-383). Nebenkapitel analysieren die Nachwirkungen von Mühlenberg bis in das 20. Jahrhundert. Außerdem liefern sie prosopografisches Material zur Familiengeschichte.
Gewiss wäre das Panorama noch zu ergänzen, etwa im Zusammenhang mit den oft aus Süddeutschland stammenden Katholiken: Wie gestaltete sich das Verhältnis von Mühlenberg zu deren Gemeinden in Philadelphia und Lancaster? - Ein weiterer Punkt sind die Kontakte zu anderen prominenten "Transatlantikern" der Epoche, beispielsweise zu dem Arzt Johann David Schöpf. Mit dem Gelehrten aus Ansbach-Bayreuth traf Mühlenberg noch kurz vor seinem Tod zusammen, um sich über geologische und botanische Interessen auszutauschen. Damit wäre ein zusätzlicher Beleg dafür gefunden, dass der "religiöse" Atlantik des 18. Jahrhunderts das Einströmen "moderner" naturwissenschaftlicher Erkenntnis nach Europa massiv begünstigte. Freilich verstehen sich diese Bemerkungen weniger als Kritik. Vielmehr sollen sie zu weiterer Forschung anregen. Mit dem vorliegenden Aufsatzband ist dafür eine vorzügliche Ausgangsbasis gegeben.
Anmerkungen:
[1] Eine positive Ausnahme bei Rosalind J. Beiler: Immigrant and Entrepreneur. The Atlantic World of Caspar Wistar, 1650-1750 (= Max Kade German-American Research Institute Series), University Park, PA 2008.
[2] Vgl. Tim Blanning: The Pursuit of Glory. Europe 1648-1815 (= The Penguin History of Europe; Bd. 6), London / New York 2007.
[3] Mit Ausnahme der Pionierstudien von Hermann Wellenreuther: Heinrich Melchior Mühlenberg (1711-1787), einflussreichster lutherischer Theologe der atlantischen Welt des 18. Jahrhunderts, in: Markus A. Denzel (Hg.): Deutsche Eliten in Übersee. Büdinger Forschungen zur Sozialgeschichte 2004 und 2005 (16. bis frühes 20. Jahrhundert) (= Deutsche Führungsschichten in der Neuzeit; Bd. 27), St. Katharinen 2006, 45-69; Ders.: Heinrich Melchior Mühlenberg und die deutschen Lutheraner in Nordamerika, 1742-1787. Wissenstransfer und Wandel eines atlantischen zu einem amerikanischen Netzwerk (= Atlantic Cultural Studies; Bd. 10), Berlin / Münster 2013.
[4] Dazu jetzt Rainald Becker: Nordamerika aus süddeutscher Perspektive. Die Neue Welt in der gelehrten Kommunikation des 18. Jahrhunderts (= Transatlantische Historische Studien; Bd. 47), Stuttgart 2012.
Rainald Becker