Werner Greiling / Holger Böning / Uwe Schirmer (Hgg.): Luther als Vorkämpfer? Reformation, Volksaufklärung und Erinnerungskultur um 1800 (= Quellen und Forschungen zu Thüringen im Zeitalter der Reformation; Bd. 5), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2016, 362 S., 8 s/w-Abb., ISBN 978-3-412-50556-1, EUR 50,00
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Im Vorfeld des 500jährigen Jubiläums der Reformation sind im Verlauf der letzten beiden Dekaden sowohl in der Geschichtswissenschaft als auch in der Kirchengeschichte die historischen kirchlichen Jubiläen in den Mittelpunkt der Forschungen gerückt. Anschließend an die rezeptionsgeschichtlich orientierte Frage nach den Orten, Begriffen, Ereignissen, Institutionen oder Texten, an denen sich das kollektive Gedächtnis einer Sozialgruppe manifestiert, anknüpfend also an die historischen Diskussionen um die "Erinnerungsorte", gerieten vor allem die Reformationsjubiläen der Jahre 1616, 1717, 1817 und 1917 [1] und die Jubiläumsfeiern der Augsburger Reformation von 1630, 1730, 1830 und 1930 in den Fokus der Forschung. [2] In diese historischen Vorbereitungsarbeiten zum großen Jubiläum von 2017 reiht sich nun auch der vorliegende Sammelband ein, der die Vorträge der Tagung "Luther als Vorkämpfer? Reformation, Volksaufklärung und Erinnerungskultur um 1800", die im Sommer 2015 im Thüringischen Gera stattfand, dokumentiert.
Die Interdisziplinarität dieser Tagung zeigt sich bereits darin, dass sie vom Forschungsprojekt "Thüringen im Jahrhundert der Reformation" an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena in Kooperation mit dem Institut "Deutsche Presseforschung" an der Universität Bremen veranstaltet wurde. Im Tagungsband finden sich Beiträge von Historikern und Theologen, Kultur- und Kirchenhistorikern, Erziehungswissenschaftlern, Medienhistorikern, Germanisten und Volkskundlern. Geographisch sind die Aufsätze vor allem auf das Gebiet des heutigen Freistaats Thüringen beschränkt. Inhaltlich bewegen sie sich zumeist um die Frage, wie sich die thüringische Volksaufklärung an die Zeit der Reformation im Stammland der Reformation erinnert hat, also um den historischen Erinnerungsort der Reformation.
Werner Greiling parallelisiert in seinem Aufsatz "Reformation, Volksaufklärung und protestantische Erinnerungskultur in Thüringen" (9-41) die Reformation und die Volksaufklärung als vergleichbare Medienereignisse, die praktisch jeden erreichten. Die Volksaufklärung war dabei ganz wesentlich getragen von den Thüringer Pfarrern, die sich auf die Reformation als legitimierenden Referenzpunkt beriefen. Luther und die Reformation wurden als das Licht gedeutet, das die mittelalterliche Nacht vertrieben hat. Die "Aehnlichkeit des Kampfes" um bürgerliche und politische Freiheiten in der Gegenwart mit dem Kampf um religiöse und kirchliche Freiheit im Zeitalter der Reformation legitimierte die Aufklärer als Nachfolger der Reformation. 1817 wurde darum als Fest der Geistesfreiheit gefeiert und Luther als Kämpfer gegen den Glaubenszwang und für die Geistesfreiheit.
Julia Beez leistet in ihrem Beitrag "Lokale Reformationsjubiläen in Thüringen. Aspekte zur Einführung der Reformation und ihrer Erinnerung vor Ort" (61-90) Grundlagenarbeit für weitere Forschungen zu den lokalen Jubiläen der Einführung der Reformation, die sich zumeist an der ersten Visitation orientierten. Reinhart Siegert widmet sich unter dem Titel "Das Lutherjubiläum von 1817 - Sprengstoff für die volksaufklärerische Ökumene?" (113-140) der Frage, ob das Reformationsjubiläum von 1817 die Zusammenarbeit zwischen den Konfessionen beendet habe, die kennzeichnend für die Thüringische Volksaufklärung gewesen war. Er weist hin auf den 1811 noch gemeinsam von allen Konfessionen in Altenbergen eingeweihten Kandelaber zur Ehre des Bonifatius und kontrastiert dazu die Feier von 1817. Für Siegert beendete das Reformationsjubiläum von 1817 "im konfessionellen Bereich das Zeitalter der Aufklärung - nicht alle aufklärerischen Bestrebungen, aber doch die Zeit, in der aufklärerische Ökumene den Ton angab" (132). Nach 1817 sei zunehmend ein "Umschlagen zum fundamentalistischen Militarismus" (132) zu beobachten. Nachweise dafür sucht man ebenso vergebens wie eine differenzierende theologiegeschichtliche Erläuterung der Zusammenhänge von Erweckungsbewegung oder konfessionell-lutherischer Bewegungen im Zuge der Restaurationszeit, die doch wohl mit dem "fundamentalistischen Militarismus" gemeint sind.
Einen Blick auf die reformierte Aufklärung wirft der Greifswalder Kirchenhistoriker Thomas K. Kuhn in seinem Beitrag "Reformierte Aufklärung. Die Reformation bei Georg Joachim Zollikofer" (183-208). Der Prediger an der Leipziger reformierten Gemeinde vertrat in seinen Erinnerungen an die Reformation die Vorstellung einer stufenweisen Entwicklung der Erkenntnis, also die sogenannte Akkomodationstheorie, die er - typisch für seine Zeit - mit der aufklärerischen Perfektibilitätstheorie verband, also mit dem auf Optimierung drängenden Fortschrittsgedanken. Die Reformation war für ihn "ein prozesseröffnendes Geschehen, das [...] immer wieder neu zu bedenken ist" (203). In diesem Sinne lehnte er ganz folgerichtig auch die normative Funktion aller Bekenntnisschriften ab. Über dem Bekenntnis stand für ihn unumstößlich Vernunft und Bibel. Die Gegenwart verlange vielmehr nach einer Union der beiden evangelischen Kirchen.
Die Lektüre des Tagungsbandes, aus dem hier nur wenige Beiträge vorgestellt werden konnten, hinterlässt einen zwiespältigen Eindruck. Die Zusammenarbeit zwischen den verschiedenen Fachrichtungen führt zu einem produktiven Miteinander, das sich vor allem auch für die Fragestellungen als äußerst fruchtbar erweist. Andererseits stellen sich die Beiträge als thematisch nur lose zusammenhängend dar, dem Band fehlt der thematische Zuschnitt, der die Aufsätze zusammenhält. Es gibt auch keine thematische Gruppierung innerhalb des Bandes. So bleibt man als Leser allein mit der Frage, was den in sich hoch interessanten und gut recherchierten Aufsatz über Justus Friedrich Froriep des Jenaer Historikers Hans-Werner Hahn (243-258) eigentlich mit den anderen verbindet, wenn sein Autor über die Tatsache hinaus, dass Froriep nicht in Thüringen lebte, am Ende resümierend festhält: "Leider finden sich aber in den reichlich vorhandenen Quellen von Frorieps volksaufklärerischen Aktivitäten keine Hinweise auf die unmittelbare publizistische Instrumentalisierung der Reformation oder des Wirkens der Reformatoren" (257f).
Theologiegeschichtliche Einordnungen der Thüringischen Volksaufklärung, die Auskunft über ihre Genese, ihr inhaltliches Profil oder auch ihr Verhältnis zu politischen Fragen wie die Französische Revolution gäben, finden sich selten, über den Konfessionalismus des 19. Jahrhunderts erfährt man nichts weiter als dass es ihn gab. Manchmal hätte man sich angesichts der Akuratesse und der Detailverliebtheit etwa in dem hochinteressanten und faktenreichen Aufsatz von Klaus-Dieter Herbst über die Rolle von Schreibkalendern des 17. und 18. Jahrhunderts (315-350) mehr inhaltliche Fragestellungen, Zuspitzung und wissenschaftlichen Ertrag gewünscht. Nichts desto trotz liegt mit diesem Buch eine Studie vor, in der wichtige Fakten zur Thüringischen Volksaufklärung und ihrer Erinnerung an die Reformationszeit zusammengetragen wurden.
Anmerkungen:
[1] Genannt seien hier pars pro toto Thomas Kaufmann, Reformationsgedenken in der Frühen Neuzeit. Bemerkungen zum 16. bis 18. Jahrhundert, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 107 (2010), 285-324, und Dorothea Wendebourg, Die Reformationsjubiläen des 19. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Theologie und Kirche 108 (2011), 270-335.
[2] Johannes Hund, Das Augustana-Jubiläum von 1830 im Kontext von Kirchenpolitik, Theologie und kirchlichem Leben, Göttingen 2016 (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte; 242).
Johannes Hund