Paul Nolte: Transatlantische Ambivalenzen. Studien zur Sozial- und Ideengeschichte des 18. bis 20. Jahrhunderts, Berlin: De Gruyter 2014, XIX + 417 S., ISBN 978-3-11-035979-4, EUR 69,95
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Dieser Band versammelt sechzehn, mehrheitlich bereits andernorts publizierte Aufsätze, die Paul Nolte im letzten Vierteljahrhundert (die frühesten Texte datieren von 1991) verfasst hat. Chronologisch und thematisch decken sie ein beeindruckend breites Spektrum ab. Mehrere der Beiträge setzen bereits im 18. Jahrhundert an und manche reichen bis in die Gegenwart; thematisch geht es um grundsätzliche Standortbestimmungen, wie etwa die Frage, ob es noch eine Einheit der Neueren Geschichte gibt, aber auch um Studien zur amerikanischen Revolution, dem Verhältnis zwischen deutschen und amerikanischen Landschaften, oder den Krisendeutungen von US-Intellektuellen in den 1920er- und 1930er-Jahren. Der Titel wird dem Band nicht ganz gerecht, zumindest nicht auf den ersten Blick: rund ein Drittel der Kapitel handelt weitgehend oder ausschließlich von Fragen der deutschen Geschichte - "transatlantische Ambivalenzen" bilden somit keineswegs in allen Texten den Kern des Untersuchungsgegenstandes. Zugleich weisen auch manche dieser Beiträge über den deutschen Tellerrand nach Westen hinaus: Jenseits von Bezügen auf Max Weber und modernisierungstheoretische Erklärungen, die sich vor allem in den frühen Texten finden, treten in jüngeren Texten etwa John Pocock und Albert Hirschman immer wieder als Inspirationen auf methodischer und konzeptioneller Ebene hervor. Anglo-amerikanische Debatten über "intellectual history" stoßen auf Noltes besonderes Interesse und kulminieren im letzten der Beiträge (bisher unveröffentlicht, von 1995), einem Plädoyer für eine deutsche "Intellectual History". Insofern bewegt sich der transatlantische Dialog in den hier versammelten Studien keineswegs nur auf empirischer Ebene.
In ihrem Zugriff stellen die meisten Beiträge nicht so sehr quellennahes Forschen an eng definierten Gegenständen in den Mittelpunkt; Noltes Band versammelt vielmehr klug ordnende Überblicke zu Forschungsfragen und -entwicklungen. Deshalb handelt es sich eher um Vermessungen von historiografischen Debatten und einer Vergewisserung des eigenen Standorts. Über die ordnende Synthese hinaus geht es in vielen Beiträgen darum, neue Perspektiven und Analyseachsen aufzumachen. Manches ist deswegen eher Skizze im Modus des Adhortativs als eine empirische Einlösung des jeweiligen Programms. Dieser Zugriff hat vor allem da, wo ein Forschungsstand abgebildet wird, oft ein relativ kurzes Verfallsdatum. So haben manche Beträge, etwa zur transatlantischen oder US-amerikanischen Geschichte, inzwischen etwas Staub angesetzt. Ob sich etwa die Analyse des Markts und seiner Kultur zu einem neuen Paradigma der amerikanischen Geschichtsschreibung entwickelt hat oder entwickeln kann, lässt sich bezweifeln. Zwar hat sich die Beschäftigung mit Ursprüngen und Entwicklungen des Kapitalismus in Amerika und der Welt in den letzten Jahren weiter verstärkt; viele dieser Arbeiten betonen jedoch stärker dessen dunkle Seiten, als dies bei Nolte geschieht. Ganz allgemein spielen im Band Phänomene wie Rassismus, Sklaverei, Krieg und Umweltzerstörung eine erstaunlich nachrangige Rolle. Wären diese Phänomene und die ebenfalls weitgehend abwesende DDR stärker einbezogen worden, wären jene transatlantischen Ambivalenzen, die der Buchtitel in den Vordergrund stellt, wohl noch plastischer hervorgetreten. Auch der europäische Horizont bleibt oft etwas schemenhaft. Dagegen tritt in mehreren Beiträgen ein Interesse an Architektur, an urbanen Räumen und Landschaften hervor, die Nolte auf methodischer Ebene in überzeugender Weise für den Brückenschlag zwischen ideen- und sozialhistorischen Dimensionen (oft auch unter Einbeziehung politik- und wirtschaftshistorischer Elemente) nutzbar macht. Dass einige empirische Thesen - etwa zur "Amerikanisierung" ostdeutscher Landschaften nach der Vereinigung - in späteren Beiträgen revidiert werden (vgl. 350 versus 384), qualifiziert diesen Befund kaum.
Mit besonderem Gewinn lesen sich meines Erachtens die Kapitel mit historiografiegeschichtlichem Fokus zur deutschen Geschichte - etwa dann, wenn beim Wehler-Schüler Nolte eine Faszination an Thomas Nipperdeys Œuvre hervortritt. Anregend sind häufig auch die analytischen Achsen, die Nolte durch den Wildwuchs ausufernder Fachdebatten schlägt. Zugleich mag man bedauern, dass einige seiner anregendsten Beiträge zum Thema keinen Eingang in den Band gefunden haben, etwa sein im Merkur 1999 publizierter Rückblick auf die Historiker der alten Bundesrepublik als "langer Generation" oder jener Sammelbandbeitrag von 2002, in dem er auf die frappanten Ähnlichkeiten im Werk Nipperdeys und Wehlers hinweist - wo diese normalerweise als gegensätzliche Gallionsfiguren der westdeutschen Nachkriegshistoriografie wahrgenommen werden.
Gewidmet ist der Band, der im Oktober 2014 erschien, übrigens Hans-Ulrich Wehler. Noltes Lehrer verstarb in den wenigen Monaten zwischen Abschluss des Bandes und seiner Veröffentlichung. In der produktiven Auseinandersetzung mit Wehlers Thesen - mal explizit (z.B. 289f.), öfters eher implizit - erlaubt der Band nicht nur wichtige Einblicke in Noltes akademisches Werk, sondern erhellt auch viele der Fragen neu, an denen sich Wehler und andere Vertreter jener "langen Generation" von Historikerinnen und Historikern abgearbeitet haben. Eine besondere Stärke des Bandes liegt deswegen genau darin: dass er zur Ordnung historischen Wissens und zur Historisierung der Geschichtswissenschaft der (alten) Bundesrepublik beiträgt.
Kiran Klaus Patel