Hermann Wentker: Die Deutschen und Gorbatschow. Der Gorbatschow-Diskurs im doppelten Deutschland 1985-1991, Berlin: Metropol 2020, 620 S., ISBN 978-3-86331-537-5, EUR 29,00
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Michail Gorbatschow, der letzte sowjetische Staats- und Parteichef, gehört zu den herausragenden Persönlichkeiten der Gegenwart, über die das öffentliche Urteil sehr ambivalent ausfällt. Die überwiegende Zahl seiner Landsleute sieht ihn als Hauptverantwortlichen für den schmachvollen Zusammenbruch der Supermacht UdSSR, was in der Weltsicht von Russlands Präsident Wladimir Putin nach wie vor die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts darstellt. Ganz anders dagegen die mehrheitliche Auffassung der Deutschen: Zumindest vom Ende her betrachtet, repräsentiert für sie der einstige Kreml-Chef einen Spitzenpolitiker, der zwischen 1985 und 1990/91 ganz entscheidend zur friedlichen Vereinigung Deutschlands und zum Ende des Kalten Krieges beigetragen hat.
Vor diesem Hintergrund greift Hermann Wentker von der Berliner Abteilung des Instituts für Zeitgeschichte eine Thematik auf, die bislang von der Forschung erstaunlicherweise nur sehr unzureichend behandelt worden ist. Und er präsentiert - um es vorwegzunehmen - eine innovative, rundum gelungene Verflechtungs-, Perzeptions- und Beziehungsgeschichte. Wentker lässt nicht nur die "Bilder von Gorbatschow und seiner Politik in beiden deutschen Staaten in Öffentlichkeit und Politik" wieder aufleben, sondern historisiert und beschreibt, welche Relevanz die dortigen Wahrnehmungen seinerzeit konkret "für das Handeln und Denken der Öffentlichkeit und der politischen Akteure in Ost und West" (15) besaß. Dabei stützt er sich auf eine imponierende Fülle an unveröffentlichten und publizierten Materialien, ohne Gefahr zu laufen, die immerhin 670 Seiten umfassende Studie mit unnötigen Details zu überborden: Neben einschlägigen deutschen Archivalien zieht er die damaligen Leitmedien heran, lässt Experten und Politikberater, etwa die des früheren Kölner Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien, zu Wort kommen, wertet demoskopische Erhebungen aus. Weit schwieriger sind unter den Bedingungen der DDR-Diktatur die dortigen Gorbatschow-Diskurse zu rekonstruieren, die sich abseits des SED-Mainstreams in einer Art Gegenöffentlichkeit herausgebildet haben. Doch Wentker filtert sie mit viel methodischem Feinsinn aus den entsprechenden Berichten des Ministeriums für Staatssicherheit heraus.
Wie sehr sich allmählich zwischen 1985 und 1989/90 der Blick beider deutscher Teilgesellschaften auf Michail Gorbatschows Innen-, Außen- und Deutschlandpolitik im Zeichen von Glasnost und Perestroika veränderte, wird in sechs Großkapiteln facettenreich geschildert. Dabei ergibt sich eine überaus bemerkenswerte Beobachtung. Zumindest anfänglich einte die politischen Eliten in Bonn und Ost-Berlin - aus freilich sehr unterschiedlichen Beweggründen - Skepsis gegenüber dem unkonventionellen Politikgebaren des neuen Machthabers im Kreml. Das konservative Politikestablishment der Bundesrepublik unterstellte ihm zeitweilig besorgt, einen Keil zwischen Westeuropa und den USA treiben zu wollen. Und die unverbesserlichen Betonköpfe im SED-Politbüro um Erich Honecker fürchteten angesichts des von Gorbatschow propagierten Systemwandels nicht zu Unrecht um den existenziellen Fortbestand der DDR. Mehr noch: sie suchten sich im Rahmen bestehender Möglichkeiten von ihm zu emanzipieren. Für sie holte die UdSSR ohnehin nur nach, was der ostdeutsche "Arbeiter- und Bauern-Staat" schon seit Anfang der 1970er-Jahre angeblich erfolgreich praktizierte: die Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik. In dieser Interpretation gab es also keinerlei Gründe, dem Moskauer Vorbild widerspruchslos nachzueifern. Während sich westdeutsche Politik und Gesellschaft in ihrer Gorbatschow-Wahrnehmung spätestens ab 1987/88 aufeinander zubewegten, sie im Zuge nunmehr glaubwürdig erscheinender Moskauer Abrüstungsofferten tradierte antisowjetische Feindbilder allmählich abbauten und von da an verstärkt um vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Reformer im Kreml nachsuchten, setzte in der DDR eine entgegengesetzte Entwicklung ein. Die SED-Führung entfernte sich unaufhaltsam von weiten Kreisen der eigenen Bevölkerung, für die Michail Gorbatschow gleichsam die Reformfähigkeit realsozialistischer Systeme repräsentierte.
Ein Höhepunkt deutsch-deutscher Perzeptions- und Beziehungsgeschichte im Hinblick auf Gorbatschow markierten dessen Besuche in Bonn und Ost-Berlin 1989. Wentker zeigt dabei nicht nur, "wie intensiv diese Ereignisse wechselseitig wahrgenommen wurden", sondern macht unterdessen deutlich, "wie populär und vertrauenswürdig Gorbatschow unter den Deutschen in West und Ost war". Gleichwohl schaut er differenziert auf die medial inszenierte westdeutsche Gorbimanie, die er zu Recht von der ostdeutschen Begeisterung für den KPdSU-Generalsekretär abgrenzt. "Denn angesichts der massiven Probleme im eigenen Land und der mangelnden Reformbereitschaft der DDR-Führung", so das Urteil des Verfassers, "waren sich die Ostdeutschen im Unklaren, ob dieser in der Lage war, ihre Reformwünsche zu erfüllen" (621). Im Unterschied dazu gerierten sich die Westdeutschen zuversichtlich, überzeugt davon, mit Gorbatschow auf mittlere Sicht ein befriedetes, ungeteiltes Europa erreichen zu können. Wie unerwartet schnell es unter der Dynamik der friedlichen Revolution des Jahres 1989 dazu kommen und wie tiefgreifend dies 1990 nach der Vereinigung die Sicht der gesamtdeutschen Öffentlichkeit auf die Person Gorbatschows beeinflussen sollte, behandelt Wentker am Ende seiner Untersuchung. Dort jedenfalls wurde der letzte KPdSU-Generalsekretär gemeinhin als Held gefeiert. Die Ostdeutschen hegten fortan tiefe Sympathien für ihn, weil er den realexistierenden Sozialismus reformiert hatte, was schließlich den Weg zu deutscher Einheit in Freiheit eröffnete. Und deren westliche Landleute schätzten darüber hinaus an ihm, dass am Anfang dieser Entwicklung seine Rolle als "Friedensbringer" stand (623). All dies als Teil einer deutsch-deutschen Verflechtungsgeschichte auf fesselnde Weise beleuchtet zu haben, ist das große Verdienst von Hermann Wentkers Buch. Es bleibt zu wünschen, dass seine wichtige Studie nicht nur in akademischen Fachkreisen, sondern auch bei einer historisch breit interessierten Leserschaft gebührende Aufmerksamkeit finden möge.
Stefan Creuzberger