Anton Grabner-Haider / Karl Prenner / Klaus S. Davidowicz: Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit. Von 1500 bis 1800, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2014, 287 S., ISBN 978-3-525-54026-8, EUR 69,99
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Eine "Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit" aus dem Verlag Vandenhoeck & Ruprecht - das klingt vielversprechend. Vielversprechend erscheint zunächst auch, dass hier gleich drei Autoren ihre je eigene fachliche Expertise einbringen und der Blick auf das christliche Europa ergänzt wird um je ein Kapitel zur "Kultur des Judentums" (Kap. 11 aus der Feder des Judaisten Klaus Davidowicz) und zur "Islamischen Kulturgeschichte" (Kap. 12, von Karl Prenner, Religionswissenschaftler). Der Hauptteil des Werkes (Kap. 1 - 10) behandelt indes das christlich dominierte Europa - zu einer echten Dreiteilung konnte man sich offenbar nicht durchringen. Beibehalten wurde hingegen der konsequente Verzicht auf die Beteiligung von Historikern: Auch der Hauptautor des ungleich aufgeteilten Werkes, Anton Grabner-Haider, ist kein Historiker, sondern Religionsphilosoph.
Originell, mag man denken: Endlich einmal eine historische Überblicksdarstellung, die nicht zu stark von den Klischees des Faches belastet ist. Die Hoffnung auf einen innovativen Zugriff, der die eingefahrenen Sichtweisen der Fachdisziplin herausfordert, wird indes schnell enttäuscht: Inhaltlich liegt der Schwerpunkt auf klassischen Themen (Kap. 1: Lebensformen und Lebenswelten, 2-4: Reformationen und religiöse Lebenswelten, 5. Philosophie, 6. Naturwissenschaften, 7. Aufklärung, 8. Herrschaft, 9. Literatur und Dichtkunst, 10. Baukunst, Malerei und Musik) und traditionellen Darstellungsweisen (ab Kap. 5 v.a. auf der chronologischen Abfolge großer Denker / Dichter / Maler). Und auch methodisch hat das Buch seinem Titel zum Trotz mit einer Kulturgeschichte im Sinne der kulturalistischen Wende nichts zu tun: Hier geht es weder um Weltbilder, Bedeutungszuweisungen und Sinnstiftungen noch um Diskurse oder Praktiken. Im Zentrum steht stattdessen das stark normativ aufgeladene Bemühen, "zum besseren Verständnis der Kultur der europäischen Neuzeit, zum Verstehen der großen Lernprozesse der europäischen Zivilisation" beizutragen (11). Diese Lernprozesse werden mit Norbert Elias zu einem großen "Prozess der Zivilisation" gebündelt, mit dem Durchbruch der Vernunft, der Säkularisierung, des Gemeindechristentums etc. gleichgesetzt und in den nachfolgenden Kapiteln in einer Weise durchdekliniert, die zur modernisierungstheoretischen Begeisterung vergangener Zeiten, nicht aber zum heutigen Forschungsstand passt.
Wie auch: Die Forschung wird in weiten Teilen nicht zur Kenntnis genommen. Nach Ausweis der Fußnoten stützt sich die Abhandlung vornehmlich auf Handbuchartikel und ältere Überblicksdarstellungen; als weiterführende Literatur (281-283) werden vor allem allgemeine Lexika ("Die großen Mathematiker") und die eigenen Arbeiten von Grabner-Haider angegeben. Dass die Titel selbst es nicht immer unfallfrei in diese Verzeichnisse geschafft haben (der Autor des Artikels "Herrschaft" in der EdN heißt nicht C. Horst (262, Anm. 1 u.ö.), sondern Horst Carl; aus Volker Reinhardt ist U. Reinhard geworden, 282), alarmiert schon beim ersten Durchblättern.
Bei der Lektüre wird das Bild immer trüber: In den großen Linien folgt die Darstellung den alten Meistererzählungen, im Detail wimmelt es vor Fehlern. Ich konzentriere mich auf die einführenden Abschnitte zur Reformation. Schon auf den ersten Seiten ist zu lesen, dass die Reformation(en) nicht nur ein religiöser Lernprozess waren, sondern auch "die Bildung moderner Staaten mit Ansätzen von demokratischen Strukturen und Entscheidungen deutlich beschleunigt" (21) hätten; Historiker sprächen auch deswegen von Prozessen der "Säkularisation" (ebd., gemeint ist Säkularisierung). Die Calvinisten heißen hier Calviner; Luther hat seine 95 Thesen laut Grabner-Haider angeschlagen, "wie uns Philipp Melanchthon berichtet" (23) - und die Forschung heute weitgehend bezweifelt; an den Erzbischof von Mainz seien die Thesen hingegen von "Klerikern" weitergeleitet worden (ebd.) - nicht mehr von Luther selbst in seinem berühmten Brief vom 31. Oktober 1517? "Erstaunlicher Weise" habe der Kurfürst von Sachsen Luther geschützt (22) - dafür gibt es Gründe, die einiges über die politischen Basiskonflikte sagen und hier hätten genannt werden können (oder müssen). Im Akt der Exkommunikation wurde natürlich nicht die Reichsacht verhängt (24); der Kaiser musste auch keineswegs "den Städten bereits auf dem Reichstags zu Speyer (1526) die Freiheit des religiösen Glaubens zugestehen" (25). Dass jene Bekenntnisse, die Karl V. 1530 in Augsburg vorgelegt worden waren (ausdrücklich genannt werden auch die Fidei Ratio und die Tetrapolitana) im Augsburger Religionsfrieden von 1555 Gesetzeskraft erlangt hätten (26), ist haarsträubend. Statt zeitlich präzise verortet zu werden, bewegt sich das Geschehen oft zwischen "bald", "nun" und "früh" (z.B. 27). Max Weber die Vermutung zu unterstellen, die "Calviner" hätten mit ihren Lehren "zur Ausbildung der kapitalistischen Wirtschaft auf direkte Weise beigetragen" (32), überrascht gerade für einen Religionsphilosophen.
Das Konzept der Konfessionalisierung begegnet in diesem Werk nicht, ebenso wenig die Kategorie der Konfessionskultur. Dafür fallen die Urteile so scharf wie schlicht aus: "So hat das protestantische Denken in Europa und Nordamerika zur Ausbildung einer vielfältigen und individualistischen Lebensgestaltung beigetragen. [...] Vor allem durch die schrittweise Entfaltung einer rationalen Aufklärung wurde die protestantische Religion deutlich weiter entwickelt. [...] Erst mit großer zeitlicher Verspätung konnte dieser Prozess in den katholischen Ländern nachgeholt werden. In den Ländern der griechischen und russischen Ostkirche ist dieser Lernprozess bis heute noch nicht abgeschlossen." (42 f.) - Sieht so eine Einladung zum interkulturellen Dialog (11) aus?
Ein solcher Dialog findet auch zwischen den drei Teilen des Buches nicht statt. Gemeinsam ist den Abschnitten zu den drei Religionen der bereits bekannte konventionelle methodische Zugriff - exemplarisch hierfür mag die Ansicht stehen, eine Kulturgeschichte der ländlichen Bevölkerung im Osmanischen Reich könne erst ab dem 19. Jahrhundert geschrieben werden, da es vorher in den Dörfern kaum Schulen gegeben habe (217). Ansonsten werden die Akzente sehr unterschiedlich gesetzt; Querverweise oder ähnliche Versuche der Verzahnung sind nicht zu erkennen.
Das Kapitel zur "Kultur des Judentums" stellt eine Ideengeschichte klassischen Stils dar: Behandelt werden zwar vor allem die Abweichler vom - offenbar als bekannt vorausgesetzten - Mainstream, was dem Ganzen einen originellen Charakter verleiht, als Einführung allerdings wenig geeignet ist. Über die Kontexte erfährt man wenig, über die Lebensbedingungen der Juden im Alten Reich (oder andernorts) nichts.
Das Kapitel zur "Islamischen Kulturgeschichte" schildert für die Reiche der Osmanen, Safawiden und Moguln jeweils eine Reihe von Aspekten von Staat und Gesellschaft bis Kunst und Architektur. Dass die Schlacht von Lepanto von 1571 auf 1573 verlegt wird (208), schafft aber ebenso wenig Vertrauen in den Text wie der zögerliche Ton, in dem hier, oftmals im Konjunktiv, die Ansichten anderer Forscher und Forscherinnen referiert werden.
Lektoriert wurde das Buch offenbar nicht (oder sehr schlecht): Da werden zur Erklärung eines Phänomens zwei Aspekte als wichtig angekündigt, aber nur einer genannt (220); mitunter stimmt der Zeilenumbruch nicht (219); mal ist von Iraq die Rede (208), mal von Irak (213); laut Inhaltsverzeichnis folgt auf Kapitel 11 das (tatsächlich nicht vorhandene) Kapitel 13.
Am Ende bleibt eigentlich nur eine Frage: Wie kann ein Verlag wie Vandenhoeck & Ruprecht ein solches Buch veröffentlichen, noch dazu unter diesem Titel? Wenn es um die Qualitätssicherung im deutschen Verlagswesen dauerhaft so bestellt sein sollte, hat der Printbereich endgültig gegen Wikipedia verloren.
Birgit Emich