Rezension über:

Agostino Paravicini Bagliani: Il papato e altre invenzioni. Frammenti di cronaca dal Medioevo a papa Francesco (= mediEVI; 5), Firenze: SISMEL. Edizioni del Galluzzo 2014, IX + 200 S., ISBN 978-88-8450-568-2, EUR 20,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen

Rezension von:
Birgit Emich
Alfried Krupp Wissenschaftskolleg, Greifswald
Redaktionelle Betreuung:
Ralf Lützelschwab
Empfohlene Zitierweise:
Birgit Emich: Rezension von: Agostino Paravicini Bagliani: Il papato e altre invenzioni. Frammenti di cronaca dal Medioevo a papa Francesco, Firenze: SISMEL. Edizioni del Galluzzo 2014, in: sehepunkte 16 (2016), Nr. 2 [15.02.2016], URL: https://www.sehepunkte.de
/2016/02/26424.html


Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.

Agostino Paravicini Bagliani: Il papato e altre invenzioni

Textgröße: A A A

"Das Papsttum und andere Erfindungen"? Keine Angst - hinter den "invenzioni" des Buchtitels verbirgt sich keineswegs die Erkenntnis, dass nun auch Papsttum und Vatikan vollends dekonstruiert oder auf sonstigen Wegen weggeforscht worden seien. Im Gegenteil: Für Agostino Paravicini Bagliani ist das Papsttum ein überaus lebendiges Universum aus Symbolen und Ritualen, das sich trotz seiner weit über tausendjährigen Geschichte unaufhörlich bewegt und entwickelt. Manche Symbole verlieren dabei an Relevanz, andere wechseln ihre Bedeutung - immer aber sind es die Rituale und Objekte der symbolischen Kommunikation, die Hierarchie und Ordnung überhaupt erst herstellen (38) und das römische Universum auch in der Rückschau verstehbar machen. Symbole wie die Tiara, die Kleidung des Papstes oder der Fischerring sind ebenso mit Bedeutungen aufgeladen wie die Rituale um den Körper des Papstes, die Verfahren der Papstwahl und jedes einzelne Element aus der weiten Welt des päpstlichen Zeremoniells. Päpste können daher nicht nicht kommunizieren: Wann immer sie in Erscheinung treten, sprechen sie auch mit und in den Symbolen des Papsttums. Diese Symbolsprache für den heutigen Betrachter zu erschließen ist das Anliegen Paravicini Baglianis.

Diesen heutigen Betrachter, mithin die Zielgruppe der im vorliegenden Band versammelten kurzen Essays, hat man sich beim morgendlichen Cappuccino vorzustellen: Zum Wiederabdruck gelangen annähernd hundert Artikel, die zwischen 2005 und 2014 in der italienischen Tageszeitung "La Repubblica" erschienen sind - durchgesehen vom Autor, aber offensichtlich nicht verändert, zu Ehren ihres Verfassers zusammengestellt und veröffentlicht anlässlich seines 70. Geburtstags.

Derart gebündelt, bilden die Artikel laut Untertitel "Fragmente einer Chronik vom Mittelalter bis zu Papst Franziskus". Tatsächlich liest sich vor allem der erste der drei Teile, in die der Band gegliedert ist, wie eine Chronik der Ereignisse. Unter der programmatischen Überschrift "Chronik von Johannes Paul II. bis Franziskus" versammelt dieser längste Abschnitt 37 Kommentare zum aktuellen Geschehen von den Trauerfeierlichkeiten für Johannes Paul II. im April 2005 über Anfang, Krise und Ende des Ratzinger-Pontifikats bis hin zur Wahl des aktuellen Papstes und dessen ersten symbolpolitischen Paukenschlägen. Zu Beginn werden folglich die Rituale rund um den Tod eines Papstes behandelt. Mit Benedikt XVI. treten dann die Probleme in den Bick, die zunächst der Papst selbst mit den Intrigen im kurialen Umfeld, dann aber die Kurie mit dem Rücktritt des Pontifex hatte. Zwischen der Ankündigung seines Amtsverzichts bis zur tatsächlichen Demission Benedikts XVI. erläuterte Paravicini Bagliani seinen Lesern nahezu täglich, welche Fragen sich nun auftaten (wo wird er wohnen, was anziehen, wie sich anreden lassen?) und was die möglichen Antworten vor dem Hintergrund einer über tausendjährigen Symbolgeschichte bedeuten könnten.

Mit der Wahl Bergoglios kommt die Chronologie in doppelter Hinsicht zu einem Schlusspunkt. Zum einen endet die Serie mit einem Artikel vom 20. Dezember 2013 über Papst Franziskus und dessen Abschied von den alten Symbolen päpstlicher Macht wie der Mozzetta und den roten Schuhen. Zum anderen misst Paravicini Bagliani diesen Handlungen epochale Bedeutung bei: Indem Franziskus mit Sprache, Gesten und Symbolen Rom und sich selbst nicht länger als Richter, sondern als Diener der Menschen präsentiere, bringe er die tausendjährige Phase der monarchischen Papstherrschaft mit ihren Ansprüchen und Symbolen zu einem Abschluss.

Aus fachwissenschaftlicher Hinsicht interessant sind nicht zuletzt die Hinweise auf die Vielfalt der Quellen, die Paravicini Baglianis Analysen untermauern und illustrieren: Von Zeremonialtraktaten und Gesandtenberichten über Werke der Dichtung wie der Geschichtsschreibung bis hin zu Gemälden und Palästen und natürlich den Dingen der römischen Symbolwelt - weit spannt sich der Fächer an Text-, Bild- und Sachquellen, an die der Autor seine Leser heranführt. Inhaltlich zentral sind indes die Rituale des Papsttums, die aus aktuellem Anlass aufgegriffen und stets mit weitem historischem Blick erläutert werden. Dass eine solche historische Kontextualisierung vor aktuellem Hintergrund ebenso unterhaltsam wie lehrreich sein kann, zeigt jeder Artikel für sich. Welche tiefgreifenden Veränderungen die drei jüngsten Pontifikate jeder auf seine Weise mit sich brachte, macht die Reihung der Artikel zu einer Chronik mit Händen greifbar.

Die folgenden beiden Teile des Bandes verabschieden sich vom Charakter einer Chronik. Die hier versammelten Texte sind in geringerer zeitlicher Dichte entstanden; sie stehen eher für sich, als dass sie einen konkreten Prozess begleiteten, und sie widmen sich Aspekten der Papstgeschichte, deren Aktualität weniger evident ist. Der zweite Teil ("Das Papsttum und die Geschichte") versammelt 19 Miszellen, die von den Beziehungen zwischen Rom und Byzanz und dem Europa-Begriff der Päpste über Exkommunikation, Ablass und Reliquienverehrung bis hin zur vormodernen Papstfinanz und der (nichtpäpstlichen) Praxis der Herzurnenbestattung führen. Der dritte Abschnitt bietet 29 weitere Artikel, in denen laut Titel "Provokationen des Mittelalters" (dem hier das 16. Jahrhundert einverleibt wird) auf ihre aktuelle Relevanz abgeklopft werden. Hexen, Templer, Alchemisten, Zölibat und Babyklappe, die Entstehung des Staatsgeheimnisses, die Geschichte der Schrift und des Strafvollzugs - hier dürfte für jeden etwas dabei sein. Die gezielte Suche in diesem bunten Strauß erleichtern im Übrigen ein Orts- und Personenregister sowie ein Sachregister am Ende des Bandes.

Auch in diesen Teilen dienen aktuelle Anlässe wie päpstliche Reisen oder Jubiläen aller Art Paravicini Bagliani als Aufhänger. Mitunter dürfte aber auch die Lektüre eines neu erschienenen Werkes den Anstoß zu einer Miszelle gegeben haben. Mit Rezensionen im engeren Sinne behelligt Paravicini Bagliani seine Leser jedoch nicht. Abgesehen von gelegentlichen Hinweisen auf zentrale Thesen oder Neuansätze bestimmter Publikationen belässt er es dabei, ausgewählte (fast ausschließlich italienische bzw. ins Italienische übersetzte) Titel zur weiteren Lektüre zu empfehlen. Adressat der Ausführungen bleibt dabei stets der interessierte Zeitungsleser - Vorkenntnisse sind zum Verständnis der knappen Texte kaum vonnöten, wissenschaftliche Kontroversen werden höchstens beiläufig erwähnt. Gleichwohl erfährt der Leser viel über die Offenheit der Geschichte: Indem Paravicini Bagliani verschiedene Lesarten etwa zu Attila, Friedrich II. oder Lucrezia Borgia miteinander konfrontiert, dekonstruiert er nicht nur Legenden, sondern macht immer wieder deutlich, wie stark die historische Beurteilung je nach Standpunkt und Kontext schwanken kann. Damit passt der Band ganz ausgezeichnet in eine Reihe, die unter der Plural-Form der Mittelalter (mediEVI) die Vielfalt und Widersprüchlichkeit dieser Epoche ins Bewusstsein rücken will.

Dass das Mittelalter chronologisch im Zentrum steht, gilt im Übrigen nicht nur für den ausdrücklich so betitelten dritten Abschnitt. In aller Regel ist den Texten anzumerken, dass ihr Autor ein ausgewiesener Spezialist der mediävistischen Papstgeschichte ist. Allerdings bemüht sich Paravicini Bagliani stets, den Bogen möglichst weit zu schlagen und seine Überblicke von der Spätantike in die Moderne zu führen - die Lektüre lohnt sich mithin keineswegs nur für Interessenten an einer bestimmten Epoche.

Warum welche Miszelle in welchem Block gelandet ist, wird nicht immer deutlich. Auch sind die Texte in Themenauswahl wie Details nicht frei von Wiederholungen (v.a. zur Heiligsprechung und Reliquienverehrung, Nr. 12 und 19 in Teil II tragen sogar den gleichen Titel). Einem Leser, der die Texte im Abstand von Wochen und Monaten in seiner Tageszeitung studiert, dürften solche Doppelungen als willkommene Auffrischung historischen Grundwissens erscheinen; bei konzentrierter Lektüre wirken die Wiederholungen hingegen ein wenig ermüdend.

Dennoch: Angesichts der hier versammelten Miszellen möchte man den italienischen Zeitungsleser nicht nur um seinen morgendlichen Cappuccino beneiden. Eine solche stets geistreiche Auseinandersetzung mit dem Papsttum, die weit über ihren engeren Gegenstand hinausblickt und Grundsätzliches über Symbole, Geschichte und Symbolgeschichte lehrt, wünschte man sich auch in deutscher Sprache.

Birgit Emich