Charmian Brinson / Marian Malet (Hgg.): "Warum schweigt die Welt?"- Die Entführung von Berthold Jacob. Eine Dokumentation (= EXIL Dokumente. verboten - verbannt - vergessen; Bd. 10), Frankfurt a.M. [u.a.]: Peter Lang 2014, XXXVIII + 140 S., ISBN 978-3-0343-1573-9, EUR 52,50
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Die Entführung und Tötung von Gegnern des Nationalsozialismus durch die Geheime Staatspolizei bzw. ihre Agenten im Ausland war keine Seltenheit. Hingewiesen sei nur auf zwei relativ bekannt gewordene Fälle: Der Versuch der Entführung der unter den Künstlernamen Rotter bekannt gewordenen Berliner Theaterdirektoren Alfred und Fritz Schaie im April 1933 durch eine Bande von Liechtensteiner und deutschen Nationalsozialisten und die Ermordung von Theodor Lessing. [1] Nun wird die Entführung von Berthold Jacob Salomon, "beruflich als Berthold Jacob bekannt" (X) von den Exilforscherinnen Charmian Brinson und Marian Malet von der Universität London untersucht.
Der im Dezember 1898 in Berlin in einer jüdischen Familie geborene Mann fand im Journalismus "sein Metier" (X). Durch seine Erlebnisse im Ersten Weltkrieg wurde er zum Pazifisten und radikalen Kritiker des deutschen Militarismus. Der als Militärexperte bekannte Journalist publizierte über geheime Aufrüstung und veröffentlichte Justizskandale. Jacob trat in die Deutsche Friedensgesellschaft ein und arbeitete als Journalist u.a. für die "Berliner Volkszeitung". Um 1923 wurde er Mitglied der Deutschen Liga für Menschenrechte, arbeitete u.a. für die Zeitschrift "Weltbühne" und war 1926 Mitbegründer der Presse-Korrespondenz "Zeit-Notizen". 1928 trat er der SPD bei und wechselte Ende 1931 zur "weiter links stehenden Sozialistischen Arbeiterpartei" (VIII).
Er wurde angefeindet und fühlte sich in Deutschland zunehmend unsicher. Ende 1932 emigrierte Berthold Jacob mit seiner Frau Else "unabgemeldet nach Straßburg" (XV) und gehörte zu den ersten Personen, denen bald nach Beginn des "Dritten Reiches" im August 1933 die deutsche Staatsbürgerschaft aberkannt wurde. In seinem Exil arbeitete für die "Straßburger Neuesten Nachrichten" und "La République" und gründete einen - diesmal zweisprachigen - Pressedienst, den "Unabhängigen Zeitungs-Dienst / Service de presse indépendent".
1934 erhielt er aus London einen Brief von Hans Wesemann, einem ehemaligen Kollegen aus Berlin. Dieser erweckte bei dem allzu vertrauensseligen Jacob den Eindruck, dass dieser Journalist ihm bei seinen publizistischen Aktivitäten helfen könne. Tatsächlich arbeitete Wesemann im Auftrag der Geheimen Staatspolizei und lockte ihn im März 1935 mit dem Versprechen, ihm zu einem neuen deutschen Pass zu verhelfen, nach Basel. Dort wurde er überfallen und über die Grenze nach Berlin verschleppt, wo er im Gefängnis der Geheimen Staatspolizei in der Prinz-Albrecht-Straße landete. Wenige Tage später wurde Wesemann verhaftet. "Jacobs Entführung und Wesemanns Verhaftung machten in ganz Europa Schlagzeilen, [...]" (XXI).
Brinson / Malet haben einen umfangreichen Schriftwechsel zur Entführung von Berthold Jacob dokumentiert. Er zeigt, wer sich alles um Berthold Jacob - und nicht zu vergessen - seine Frau bemühte: Der Kollege und Freund Rudolf Olden und dessen Ehefrau Ika Olden setzten sich für die Befreiung von Berthold und die Verbesserung der Lebenslage von Else Jacob ein. Thematisiert wird die "Unofficial Commission of Enquiry into Nazi Murders and Kidnappings", bei der im Juli 1935 Else Jacob als Zeugin befragt wurde. Auch der Vorsitzende der Saarländischen SPD Max Braun und Ada Lessing, die Witwe des ermordeten Theodor Lessing geben Zeugnis ab. Sie berichten über Nazi-Entführungen im Saargebiet und die Verfolgung und Ermordung von Lessing.
Die Absender und Empfänger der Briefe lesen sich wie ein "Who is who" der deutschsprachigen Emigration: Ernst Toller, Nico Rost, Hellmut von Gerlach, Hermann Budzislawski, Gabriele Tergit, Emil Julius und Marieluise Gumbel, Max Sievers und viele andere. Die Briefe stammen von Berthold und Else Jacob sowie von Jabobs unter dem Namen Hans Roger Madol bekannt gewordenen Bruder. Die Korrespondenz umfasst zahlreiche ausländische Helferinnen und Helfer wie Wickham Steed oder Lord Marley. In diesen Briefen ist neben den Bemühungen um Berthold und Else Jacob auch sehr viel die Rede von den Lebensbedingungen der aus Deutschland vertriebenen Menschen. Den in der Universität Oxford aufbewahrten Schriftwechsel ergänzen die Herausgeberinnen mit Zeitungsartikeln und anderen Dokumenten sowie Briefen und Unterlagen aus mehreren anderen Archiven in Bern und Basel - darunter Unterlagen des Gerichtsarchivs - und der National Archives in Kew in England sowie aus Bibliotheken. Die in deutscher, englischer und französischer Sprache abgefassten Texte werden in der jeweiligen Originalsprache wiedergegeben.
Als Ergebnis der vielfältigen Bemühungen und diplomatischen Forderungen der Schweiz, Berthold Jacob freizulassen, wurde er am 17. September 1935 an eidgenössische Behörden übergeben. Seine Erlebnisse bis dahin hat er in einem im Staatsarchiv Basel aufbewahrten "Schriftsatz von Berthold Jacob-Salomon" festgehalten. Dort werden seine Entführung, der Transport nach Berlin, die Vernehmungen bei der Gestapo beschrieben und mit einem "Nachtrag [...] über meine Beziehungen zu Wesemann" (119) ergänzt.
Berthold Jacob wurde 1936 - im gleichen Jahr fand in Bern der Prozess gegen Wesemann statt - nach Frankreich ausgewiesen. In Paris - wo er polizeilich überwacht wurde - führte er die in Straßburg begonnene Presse-Korrespondenz weiter und gab die Schrift "Warum schweigt die Welt" heraus, in der er auch seine Hafterfahrungen detailliert beschrieb. Dieser Text wird im Anhang abgedruckt.
Sein Entführer Wesemann verbrachte drei Jahre im Gefängnis und verließ 1938 Europa in Richtung Südamerika. Drei Jahre darauf mussten Berthold und Else Jacob, nachdem sie seit August 1939 als politische Häftlinge festgehalten wurden, nach einer Odyssee 1941 weiter nach Lissabon fliehen. Dort lebten sie untergetaucht und hofften auf ein Visum nach Übersee. Zu einer Fortsetzung der Flucht kam es nicht, weil Jacob am 25. September 1941 erneut von Gestapo-Agenten aufgegriffen und nach Madrid entführt wurde. Von dort wurde er nach Berlin ausgeflogen und wieder im Geheimen Staatspolizeiamt festgehalten. In Folge der in der Haft erlittenen Verletzungen starb er am 26. Februar 1944 im Jüdischen Krankenhaus in Berlin-Wedding. Else Jacob lebte noch mehrere Jahre in Portugal, bevor sie nach Deutschland zurückkehrte. Sie ist 1978 in Wiesbaden verstorben.
Der schmale Band thematisiert nicht nur umfassend die Entführung von Berthold Jacob, sondern gibt zahlreiche Einblicke in sein Leben vor, während und nach dem Verbrechen. Die von Brinson / Malet mit Hilfe von über 250 Anmerkungen sehr fundiert kommentierten Texte verdeutlichen auch die schwierigen Lebensumstände von Else Jacob und stellen somit auch eine kleine Sozialgeschichte des Exils dar.
Anmerkung:
[1] Zum Fall Rotter / Schaie vgl. Hansjörg Quaderer (Hg.): Jener furchtbare 5. April 1933. Pogrom in Liechtenstein, Zürich 2013. Die Ermordung von Theodor Lessing behandelt Rainer Marwedel: Theodor Lessing, 1872-1933. Eine Biographie, Darmstadt / Neuwied 1987, 341 ff.
Kurt Schilde