Jan Brademann / Kristina Thies (Hgg.): Liturgisches Handeln als soziale Praxis. Kirchliche Rituale der Frühen Neuzeit (= Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme. Schriftenreihe des Sonderforschungsbereichs 496; Bd. 47), Münster: Rhema Verlag 2014, 456 S., 13 s/w-Abb, 1 CD, ISBN 978-3-86887-023-7, EUR 52,00
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Der zu besprechende Band ist aus einer Tagung hervorgegangen, die von einem Projekt des SFB 496 "Symbolische Kommunikation und Gesellschaftliche Wertesysteme" und einem Projekt des Exzellenz-Clusters "Religion und Politik in den Kulturen der Vormoderne und Moderne" 2009 initiiert worden ist. Die veranstaltenden Institutionen lassen erkennen, dass die Tagung nicht zufällig in Münster stattgefunden hat. Was der Titel des Bandes verschweigt und der Untertitel hinter der Wendung "in der Frühen Neuzeit" versteckt, ist das Bestreben, die Erforschung frühneuzeitlicher Liturgien als rituelles Handeln und politisch-soziale Praxis für ein erweitertes oder gar neues Verständnis des Konfessionalisierungsprozesses fruchtbar zu machen.
Die Aussage: "Es ist unbestreitbar, dass liturgische Praktiken in der Moderne eine wichtige Rolle bei der Bildung konfessioneller Identitäten gespielt haben" (208), wird wohl tatsächlich niemand bestreiten, ebenso wenig jene, dass die Anerkennung der "Wirkmächtigkeit ritueller Akte für die Reformation" (25) zwar Konsens sei, aber nur ein stillschweigender, und überhaupt zu wenig erforscht. Damit gibt sich der Mitherausgeber J. Brademann aber nicht zufrieden. In seinem umfangreichen einleitenden Beitrag (11-58) schlägt er vor, "Konfessionalisierung als liturgisch-rituellen Prozess zu analysieren" (13). Wie weit er damit gehen möchte, ob er etwa in Anlehnung an bestimmte Ritualtheorien die liturgischen Rituale geradezu als konfessionsbegründend versteht, ist dem Rezensenten jedoch nicht klar geworden. Manche Formulierung spricht dafür, manche dagegen. In dem Willen, seinen Überblick über das weite Feld der ritual studies zu belegen, und dem Bemühen, zu jedem angesprochenen Aspekt einen Theorieansatz oder zumindest einen Literaturtitel zu bieten, breitet der Autor eine Masse von Material aus, in dem der Überblick schnell verloren geht. Weniger, das aber intellektuell stärker durchdrungen, stringenter organisiert und nicht zuletzt präziser formuliert, wäre hier mehr gewesen.
Ohnehin folgen ihm die Autorinnen und Autoren des Bandes nicht bis zur angesprochenen Maximalposition, wie überhaupt der einleitende Beitrag einen theoretischen Überschuss bietet, der von den nachfolgenden Untersuchungen nicht eingeholt wird. Das ist freilich bei Tagungsbänden weder außergewöhnlich noch zu vermeiden, liegt es doch gewissermaßen in der Natur der Sache. Es ist deshalb müßig, darüber im allgemeinen Klage zu führen - und in diesem speziellen Fall ist es auch überflüssig, jedenfalls aus der Sicht des Rezensenten, der nicht sieht, wo eine (noch) stärkere theoretische Unterfütterung der einzelnen Beiträge zu wesentlich tieferen Einsichten hätte führen sollen.
Der Band ist interdisziplinär ausgerichtet, was gebührend betont wird (allerdings sollte man nicht von "Nachbardisziplinen" (54) sprechen, wenn man im vorangehenden Absatz den "notwendigerweise interdisziplinären Austausch" (53) hochgehalten hat). Freilich hätte man sich das Spektrum breiter vorstellen können. Fast gleich stark sind Historiker(inne)n und Theolog(inn)en (in konfessionell ausgewogener Mischung) vertreten. Dazu kommt nur noch eine einsame Germanistin (I. Scheitler) zum Thema Kirchenlied. Kann man das Fehlen von volkskundlichen Beiträgen noch verschmerzen, da sie sich wohl kaum grundsätzlich von manchen der historischen Aufsätze unterschieden hätten, ist der Verzicht auf kunsthistorische Untersuchungen ein echtes Defizit.
Im übrigen wird einem aufmerksamen Leser eine gewisse disziplinäre Arbeitsteilung auffallen: Die Beiträge der methodisch ausgerichteten ersten Sektion (V. Krecht, E. Arens, A. Odenthal) und jene der die theologisch-dogmatischen Grundlagen der Liturgie in den jeweiligen Konfessionen abhandelnden zweiten Sektion (D. Wendebourg, R. Kunz, B. Kranemann) stammen von Theologen (was dem Titel der letztgenannten Sektion: "Bekenntnis und Symbol: Die Liturgie aus der Sicht der Theologen" etwas Doppeldeutiges verleiht - tatsächlich sind die Theologen des 16. Jahrhunderts gemeint). "Liturgisches Handeln" im Alltag (und natürlich an Sonn- und Festtagen) und die mit ihm verknüpfte "soziale Praxis" wird dagegen fast ausnahmslos von Historiker(inne)n untersucht.
Dies geschieht in den vier folgenden Sektionen, zwischen denen zahlreiche Verbindungen und Überschneidungen existieren, weshalb sie hier en bloc vorgestellt werden sollen. Die konfessionsspezifischen Liturgien werden zunächst in ihren Grundlinien und Anfängen für jede Konfession einzeln betrachtet: die Anfänge der lutherischen Liturgie in Wittenberg (N. Krentz), die tridentinische Messe im Katholizismus (Ph. Martin) und der Calvinismus am Beispiel Genf (Ch. Grosse). Danach werden die Konfessionen vergleichend in den Blick genommen, anhand der Begräbnisriten (J. Bärsch) und der Visitationspraxis, die hier als liturgisches Handeln gedeutet wird (M. Menne). Dies gilt auch für den bereits angesprochenen Beitrag zum Kirchenlied. Die beiliegende CD mit eingespielten Liedbeispielen ermöglicht es dem Rezipienten zudem, über den Akt des Lesens hinaus etwas von der Performanz der Gottesdienste nachzuvollziehen, die in den ritualtheoretisch ambitionierteren Beiträgen so gerne beschworen wird.
Liturgisches Handeln diente jedoch nicht nur der Schärfung konfessioneller Profile. Die Große Prozession in Münster kann zugleich als Indikator für Veränderungen im politisch-gesellschaftlichen Gefüge wie im Frömmigkeitsstil der frühneuzeitlichen westfälischen Bischofsstadt gelesen werden (K. Thies). Ein zweiter Aufsatz, der sich mit derselben Prozession befasst, überschreitet die zeitliche Grenze des Themas ins 19./20. Jahrhundert und zeigt, wie katholische Studentinnenvereine um eine angemessene Partizipation an der Prozession kämpften - Emanzipation durch 'demonstrativen Katholizismus' (L. Krull).
Die Zeit war freilich nicht nur vom Konfessionskonflikt bestimmt. Ohnehin konnte selbst die liturgische Praxis nicht immer die gewünschte Eindeutigkeit bieten, wie A. Pietsch am Beispiel des 'konfessionellen Chameleons' Justus Lipsius zeigt. In manchen Fällen mussten pragmatische Lösungen für das Zusammenleben gefunden werden. Münsterländische Protestanten waren bereit, Taufen und Eheschließungen in der katholischen Pfarrkirche zu akzeptieren, nicht jedoch das Abendmahl (D. M. Luebke), österreichische Kryptoprotestanten gingen in der Anpassung noch weiter (M. Scheutz). Allerdings boten Institutionen, wie die Simultankirchen, welche die Konfessionen auf engstem Raum zusammenführten, immer wieder Anlass zum Streit (L. Jalabert).
Insgesamt ist ein Band entstanden, der ein wichtiger Schritt ist in dem Bemühen, das "Defizit einer geschichtswissenschaftlichen Liturgieforschung" (13) zu beheben, und als "Vorarbeit für eine [...] systematische Erforschung frühneuzeitlicher Liturgien" (53) sowohl durch die häufig exemplarischen Untersuchungen als auch durch die theoretisch-methodischen Überlegungen (wenngleich die Frage, "inwieweit es gelingen kann, die angesprochenen Theoriestränge in einem methodisch konsistenten Umgang mit den Quellen zu operationalisieren" (41) weiter offen bleibt) vielfältige Anregungen bietet.
Stephan Waldhoff