Günter Buchstab (Bearb.): Kohl: "Wir haben alle Chancen". Die Protokolle des CDU-Bundesvorstands 1973-1976 (= Forschungen und Quellen zur Zeitgeschichte; Bd. 67), Düsseldorf: Droste 2015, 2 Bde., LIII + 2203 S., ISBN 978-3-7700-1920-5, EUR 149,00
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Als Helmut Kohl am 12. Juni 1973 das Amt des Bundesvorsitzenden der CDU übernahm, standen ihm große Herausforderungen bevor. Hatte die Union nach dem Verlust der Macht 1969 lange Zeit den Irrglauben gehabt, die Regierung noch vor 1973 wieder übernehmen zu können, herrschte nun, sieben Monate nach der schweren Niederlage bei den Bundestagswahlen vom November 1972, die Einsicht, man habe "eine sehr lange, unsichere Perspektive" vor sich (Karl Carstens, 401). Wie Kohl es in dieser Situation gelang, der Partei Mut zu machen und Aufbruchsgeist zu wecken, davon zeugen die Wortprotokolle zu den 35 Sitzungen des CDU-Bundesvorstands von 1973 bis 1976.
Der Vorsitzende begann die Beratungen in der Regel mit einem Bericht zur politischen Lage, der die wichtigsten aktuellen Fragen der Innen- und Außenpolitik behandelte und so den Ton vorgab. Danach räumte Kohl den Vorstandskolleginnen und -kollegen breiten Raum für intensive Diskussionen ein. Mitunter sah er sich auch genötigt, "Klartext" zu reden (802), um so eine tragfähige Basis für eine Beschlussfassung zu erhalten, die dann als "Direktive" (Kurt Biedenkopf, 1567) für die diversen Ebenen der Partei in Bund, Ländern und Kommunen dienen konnte.
Unter Kohls Ägide verschrieb sich die Partei einer organisatorisch-programmatischen Erneuerung, wobei er das "C" im Parteinamen nicht "keusch [...] verschwiegen" (711), sondern "praktikabel" in die Gegenwart übersetzt sehen wollte, "in Formeln [...], die die Menschen [...] draußen verstehen" (2017). Innen- wie außenpolitisch galt es, die Union mit konstruktiven Ansätzen als überzeugende politische Alternative zur SPD-FDP-Koalition zu positionieren. Die Protokolle der Sitzungen verdeutlichen indes nachdrücklich, dass Kohls Kurs einer Politik "aus einem Guß" (8) keineswegs von allen Granden des "politische[n] Führungsorgan[s] der Union" (Alfred Dregger, 1618) uneingeschränkt mitgetragen wurde. Nicht selten vermerken sie "Zwischenruf: [...] Diskussion und Unruhe" (301). Ob bei der Frage der Mitbestimmung, der Debatte über die "Neue soziale Frage" (1256), der "Verbesserung der Stellung der Frau" in der Gesellschaft (1215), der Reform des Sexualstrafrechts oder der Stabilitätspolitik, immer wieder kam es zu scharfen Kontroversen. In der Klausursitzung vom 6. Oktober 1973 sah sich der Vorsitzende gar zu dem Appell genötigt, "einander zuzuhören und den anderen nicht zu verteufeln" (409).
Keineswegs harmonischer verliefen die Beratungen über die Außen- und Deutschlandpolitik. Ohne eine "grundsätzliche Konfrontation" zur Regierungspolitik (Walther Leisler Kiep, 1299) zu suchen, zielte der Vorstand darauf, "eigene deutliche Akzente" (Karl Carstens, 1303) zu setzen und dort Kritik zu üben, wo sie notwendig erschien. Insbesondere in der Europapolitik warf das Gremium der Regierung Versagen vor und versuchte mit eigenen Initiativen wie dem Vorschlag zur Direktwahl des Europäischen Parlaments unter Beweis zu stellen, dass die Union "an dem Gedanken der schnellen Fortschritte [...] auf dem europäischen Weg" festhielt (Kohl, 602f.). Doch nicht alle Vorstandsmitglieder fanden es richtig, den "Markenartikel Westpolitik" stärker zu positionieren (Rainer Barzel, 148). Norbert Blüm etwa meinte dem einen oder anderen unter ihnen im Februar 1975 vorhalten zu müssen, man könne nicht gleichzeitig auf der Hochzeit der europäischen Integration und jener der nationalstaatlichen Souveränität tanzen. Kohl erinnerte ihn aufgrund der sofort aufkommenden "Unruhe und Zwischenrufe" (1156) arg salopp an seinen "Fanatismus bei der Fußballweltmeisterschaft" im Vorjahr und empfahl dann gewissermaßen als Brückenschlag zwischen den eher europa- und den stärker nationalbewegten Kollegen die salomonische Formel: "Wir wollen die anderen Völker achten und das eigene Volk lieben" (1186). Dies bedeutete für ihn ostpolitisch, "Versöhnung" als christdemokratische Vokabel anzunehmen (1642), und deutschlandpolitisch, durch Besuche in der DDR die "eine deutsche Nation [...] im Rahmen des Möglichen zu leben" (903). Nur wenn es in der Deutschland- und Ostpolitik gelänge, "die Schlachten von gestern [...] nicht weiterhin fortdauernd [zu] schlagen" (Helmut Kohl, 710), konnte die Partei nach Meinung ihres Vorsitzenden und seines Generalsekretärs über das "Trauma des Mai 1972" hinwegkommen (Kurt Biedenkopf, 1308).
Dass dieser Appell nur bedingt fruchtete, zeigten die Diskussionen über das von der Bundesregierung 1975 vereinbarte Vertragswerk mit Polen. Im Bewusstsein, "die Enden nicht zusammen[zubekommen]" (1581), verhinderte Kohl eine Abstimmung, um die Spaltung des Vorstands nicht in die Öffentlichkeit gelangen zu lassen. Dass auch der Vorsitzende entspannungspolitisch nicht immer an der Spitze des Fortschritts stand, verdeutlichte die Debatte über die KSZE. Im September 1974 warnte Kohl vor möglichen "katastrophal[en]" Konsequenzen der Sicherheitskonferenz (755) und sah nach der Unterzeichnung der Akte in Helsinki im August 1975 "eine weltweite Skepsis in den Fragen der Entspannung" voranschreiten (1394).
In einer Hinsicht kam ihm diese Skepsis durchaus gelegen: in Bezug auf den für 1976 angestrebten "Machtwechsel" (1577). Seit dem Herbst 1974 war Kohl davon überzeugt, dass die Union "große Chancen [habe], wenn wir hart arbeiten" (761). Als "lebensgefährlich" erachtete er das Anfang 1975 in der Partei wahrnehmbare Gefühl, man habe die "Schlacht schon gewonnen" (1043). Ebenso töricht erschien ihm der seit Herbst 1975 an der Basis einsetzende "Defätismus", die Wahl sei bereits verloren (1466). Mit Nachdruck forderte Kohl den Vorstand daher auf, die Stimmung im Lande dorthin zu führen, "wo sie hingehört, nämlich daß wir alle Chancen haben, wenn wir es nur selbst wollen" (1473).
Wie der "Hauptgegner" Helmut Schmidt (Karl Carstens, 1667) im Wahlkampf gepackt werden könne, darüber herrschte im Bundesvorstand Uneinigkeit. Gerhard Stoltenberg plädierte dafür, die Hemmungslosigkeit des "Macher[s] ohne Grundsätze" zu betonen (1685). Walther Leisler Kiep hingegen vertrat die Ansicht, man müsse den Gegensatz der Glaubwürdigkeit zwischen dem von der CDU getragenen Oppositionsführer und dem von der SPD als Feigenblatt zur Kaschierung ihrer wahren Absichten missbrauchten Kanzler herauskehren. Nicht unumstritten war im Bundesvorstand auch der "ziemlich eruptiv" (Gerd Langguth, 2014) bekanntgewordene Wahlkampfslogan "Freiheit statt Sozialismus". Während es Norbert Blüm missfiel, dass die CDU "auf die sozialdemokratische Monopolisierung der Sicherheit die Monopolisierung der Freiheit" setze (2010), hielt Alfred Dregger dagegen, dass Wahlkampf "nun mal etwas mit Kampf zu tun" habe (2015).
Trotz alledem blieb Kohl bei seinem Credo: "Wir haben alle Chancen, wenn wir das selbst wollen" (2047). Kurz vor der Wahl Anfang September sah er noch immer eine "halbe-halbe Position, also 50:50" (2088). Am Ende sollte es für die Union und ihren Kanzlerkandidaten doch nicht reichen. Mit Spannung wird man in dem dereinst publizierten nächsten Band der Protokolle des CDU-Bundesvorstands nachlesen, wie der Vorsitzende das Wahlergebnis erklärte.
Von Günter Buchstab in bewährter Weise mustergültig ediert, mit einem Kopfregest, sparsamem Personen- und Sachkommentar und knappen Literaturangaben versehen, stellen die in der Regel auf den Transkriptionen der Tonbandmitschnitte beruhenden Protokolle eine der wichtigsten Quellen zur Geschichte der CDU, ja der Bundesrepublik dieser Jahre insgesamt dar. Der gelernte Historiker Helmut Kohl war sich ihres Wertes nur zu bewusst. "Was heute an Quellen vorbereitet und zur Verfügung gestellt wird", beteuerte er am 17. September 1973, "das wird die Geschichtsschreibung, das Bild der Bundesrepublik in der Gründungsphase der ersten 25 Jahre, in 20 Jahren und in Zukunft bestimmen" (103).
Ulrich Lappenküper