Sebastian Dohe: Leitbild Raffael - Raffaels Leitbilder. Das Kunstwerk als visuelle Autorität, Petersberg: Michael Imhof Verlag 2014, 336 S., 122 Abb., ISBN 978-3-86568-860-6, EUR 69,00
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Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Colin Harrison / Christopher Newall: The Pre-Raphaelites and Italy, Aldershot: Ashgate 2010
Tim Barringer: Reading the Pre-Raphaelites, New Haven / London: Yale University Press 2012
Rachel Teukolsky: The Literate Eye. Victorian Art Writing and Modernist Aesthetics, Oxford: Oxford University Press 2009
"The mediaeval principles led up to Raphael, and the modern principles lead down from him." [1] Den nimbischen Status, den John Ruskin hiermit Raffael zuschreibt, arbeitet Sebastian Dohe in seiner Untersuchung als visuelle Autorität heraus.
Vorangestellt ist der Arbeit eine methodische Vorüberlegung sowie darin enthalten eine Bestimmung des Begriffes der visuellen Autorität sowie ihre Anwendung als Interpretationsfolie für die Bildrezeption. Dohe definiert die visuelle Autorität eines Artefaktes als den herausgestellten Status eines Kunstwerkes, als "die am Artefakt kondensierte Autorität einer Bildfindung" (12). Er beschreibt beispielhaft an Raffael und dessen Transfiguration die autoritative Überhöhung des lange Zeit als berühmtestes Gemälde der Welt angesprochenen Werkes, die dazu führt, dass das Motiv auch in anderen Bildzitaten Verwendung finden kann, ohne seine Symbolkraft einzubüßen.
Den Hauptteil der Untersuchung nimmt die Konstruktion der Autorität Raffaels und seines Œuvres als Leitbild in der Frühen Neuzeit ein. Denn gerade in dieser Epoche scheint das Bedürfnis an visueller Autorität besonders hoch zu sein, funktioniert das Kunstsystem der Zeit doch stark über Autoritätenfolgen, wie Dohe anhand seines aufgestellten Modells eindrücklich vorführen und belegen kann.
Dohe liefert hierin einen Rezeptionsatlas der Transfiguration in verschiedenen Gattungen, die er katalogisiert, um sodann mittels Querverweisen Verbindungen auszumachen.
Anhand dessen bespricht er die Entwicklung von visueller Autorität in Literatur und Kunst, angespornt durch die Verklärung Raffaels in Vasaris Vite, über die würdigenden Beschreibungen in Reiseberichten ab dem 17. Jahrhundert bis hin zur kritischeren Auseinandersetzung in den Kunstakademien und der Kunstwissenschaft ab dem späten 18. Jahrhundert. Die nun einsetzende Dekonstruktion der visuellen Autorität des Bildes, wird jedoch hauptsächlich auf Raffaels Schüler abgeleitet, sodass der Nimbus des großen Künstlers weiterhin bestehen bleibt.
Zu Recht erwähnt Dohe, dass im Zeitalter der Industrialisierung der Autoritätsbegriff allgemein diffuser und stets mit sozialen Emanzipationsbewegungen gepaart ist. Er entzieht sich an dieser Stelle zum Wohle der Präzision des Themas einer Vertiefung der Diskussion um ein neu entstehendes Künstlerideal des Individual-Genies in Abkehr zu der Akademietradition der klassisch-autoritativen Vorbilder, die zeitgenössisch bereits durch Ruskin und die Präraffaeliten angeregt wurde.
Im Gegensatz zu dieser differenzierten Auseinandersetzung in der Kunstwissenschaft scheint das Gemälde seine Strahlkraft in der sich ausbreitenden bürgerlichen Schicht im Laufe des 19. Jahrhunderts nicht zu verlieren, wie Dohe an den populärgrafischen Beispielen aufzeigt. Die Frage nach den Gründen für die Degradierung der Transfiguration im 20. Jahrhundert, während andere Kunstwerke den Platz im Rampenlicht kollektiver Aufmerksamkeit erhalten oder auch halten können, wird angeschnitten.
Der letztlich gänzliche Niedergang des gewonnen Status des Bildes wird von Dohe als logische Konsequenz einer massenhaften Verbreitung und Kommerzialisierung ausgemacht. Diese Argumentation steht jedoch in Konflikt mit der vorangegangenen Diskussion (27f.), in der Dohe postuliert, dass visuelle Autorität sich durch Reproduktion nur mehre, während im Gegenzug bereits die museale Distanz der Absperrung oder einer schützenden Glasscheibe vom Autor als Einschränkung empfunden wird. Dohe spricht in diesem Zusammenhang gar von einem "Akt der Enttäuschung" (23), übergeht jedoch eine stringente Differenzierung zum Aura-Begriff Benjamins [2] und dessen Wertung eines möglichen Qualitätsverlustes durch die Reproduktion.
Als kurzer Einschub führt Dohe im dritten Kapitel am Beispiel des vieldiskutierten Porträts des Bindo Altoviti eine Erörterung um Autorität und Authentizität. Indem er aufzeigt, wie die autoritative Grundeinstellung und die Erwartungen dem Kunstwerk gegenüber die Diskussionen beeinflussen und in eine Richtung lenken, verdeutlicht er, dass ein solches Bild selbst in der wissenschaftlichen Zuweisung nicht frei sein kann von autoritativem Wunschdenken.
Das vierte Kapitel, das den wichtigsten motivischen Entwicklungen nachgeht, behandelt die Frage, ob visuelle Autorität auch unabhängig von personalisierter Autorität standhalten kann. Am Beispiel des "himmelnden Blicks", einem so zahlreich eingesetzten Motiv, dass es allein deswegen bereits über eigene Autorität und Potenz verfügt, wird visuelle Autorität von der griechisch-römischen Antike bis in die Gegenwart abseits von Künstlerpersönlichkeiten aufgespürt und die Deutungskonstante einer kulturellen Figur in Abhängigkeit zu ihrer Funktion in der jeweiligen Epoche und Gesellschaft aufgestellt.
Ein präzises Fazit fokussiert zum Schluss konzise auf die Ergebnisse, zahlreiche Abbildungen sowie umfangreich und präzise zusammengestelltes Quellenmaterial runden die Untersuchung ab, die einerseits als Einführung in die Methodik der visuellen Autorität wie auch als Nachschlagewerk zur Raffaelrezeption dienen kann.
Dohe legt mit seiner Publikation insgesamt ein beachtliches Rezeptionskompendium vor. Besonderer Verdienst der Arbeit ist sicherlich die Zusammenfassung der wichtigsten Transfigurations-Zitate und -Kopien als bedeutende Bausteine in der Ausbildung einer Autoritätenfolge und die Darstellung des Kopierbetriebes in seinen eigenen Hierarchien und Zwischenautoritäten. Dohes Arbeit stellt insgesamt eine sehr gut ausgearbeitete Verhandlung des Begriffes der visuellen Autorität da, die als Basiswert Anknüpfungsmöglichkeiten für zukünftige Beschäftigungen mit dem Thema liefert. Dies erscheint gerade vor dem Hintergrund der derzeitigen gesellschaftlichen Verunsicherung und der Diskussion um Wertebindung und Ethik in Wirtschaft und Politik wichtiger denn je.
Anmerkungen:
[1] John Ruskin: 'Pre-Raphaelitism'. Lectures on Architecture and Painting (1854), 189-239, in: Inga Bryden (ed.): The Pre-Raphaelites: Writings and Sources, Band 3, Illustrierte Neuauflage, London 1998, 143.
[2] Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, Deutsche Fassung von 1939 (= suhrkamp taschenbuch; 4196), Berlin 2010, 16.
Beate Kampmann