Rezension über:

Heinz A. Richter: Der Krieg im Südosten. Band 1: Gallipoli 1915 (= Peleus. Studien zur Archäologie und Geschichte Griechenlands und Zyperns; Bd. 65), Ruhpolding: Verlag Franz Philipp Rutzen 2013, 289 S., 18 Kt., 121 s/w-Abb., ISBN 978-3-447-10118-9, EUR 42,00
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Heinz A. Richter: Der Krieg im Südosten. Band 2: Makedonien 1915-1918 (= Peleus. Studien zur Archäologie und Geschichte Griechenlands und Zyperns; Bd. 65/2), Ruhpolding: Verlag Franz Philipp Rutzen 2014, 202 S., 4 Kt., 91 s/w-Abb., ISBN 978-3-447-10249-0, EUR 42,00
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Rezension von:
Vaios Kalogrias
Fern-Universität Zypern / Johannes Gutenberg-Universität, Mainz
Redaktionelle Betreuung:
Empfohlene Zitierweise:
Vaios Kalogrias: Heinz A. Richter: Der Krieg im Südosten (Rezension), in: sehepunkte 15 (2015), Nr. 11 [15.11.2015], URL: https://www.sehepunkte.de
/2015/11/26905.html


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Heinz A. Richter: Der Krieg im Südosten

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Hundert Jahre nach dem Ausbruch des "Großen Krieges", schreibt der Griechenland- und Zypern-Experte Heinz A. Richter in der Einleitung des ersten Bandes seiner neuen Studie, sind "die südosteuropäischen Kriegsschauplätze des Ersten Weltkriegs, also die Dardanellen-Halbinsel und Makedonien, [...] im historischen Bewusstsein der Deutschen und vieler Westeuropäer kaum noch vorhanden, [...] im Falle Makedoniens völlig in Vergessenheit geraten" (9). Auch in der deutschen Historiographie zum Ersten Weltkrieg, moniert er, sei das Thema eher stiefmütterlich behandelt worden. Tatsächlich sind beide Kriegsschauplätze von den Ereignissen an der Westfront völlig überschattet worden. Von diesem Forschungsdesiderat ausgehend, legt er ein zweibändiges Werk vor, um Vergessenes wieder in Erinnerung zu rufen.

Der erste Band beschäftigt sich mit den Kriegsereignissen des Jahres 1915 in Gallipoli. Richter fokussiert auf die Strategie der Westalliierten und untersucht die Gründe für das Scheitern der militärischen Operationen der Entente-Mächte (10). Zunächst beschreibt er die Vorgeschichte des Kriegseintritts des Osmanischen Reichs im Herbst 1914, angefangen mit dem Ausbruch der Orient-Krise (1875-1878). In den enormen territorialen Verlusten während der Balkankriege (1912/13) sieht er die Ursachen für die engere militärische Bindung des gedemütigten Osmanischen Reiches an das Deutsche Reich, das im Gegensatz zu England und Frankreich keine Ansprüche auf die Provinzen des Sultans stellte und diesem daher ein willkommener Verbündeter war. Eine nach Konstantinopel entsandte Militärmission unter der Leitung von Otto Liman von Sanders übernahm die Aufgabe, das osmanische Heer zu modernisieren. Sie nahm damit auch Einfluss auf Fragen der osmanischen Außenpolitik (37-43).

Zwar dominierte die deutsche Militärmission die osmanische Politik nicht (74), doch ihr Einfluss war nicht unbeträchtlich. Außer der Reorganisation und Ausbildung der osmanischen Streitkräfte auf See und Land befasste sie sich mit der Befestigung der militärischen Verteidigungsanlagen an den Dardanellen und am Bosporus; circa 4.000 bis 5.000 deutsche Experten wurden zu diesem Zweck nach Konstantinopel geschickt (75). Nach Berlins Zusage, eine Anleihe von 200 Millionen Francs bereitzustellen (76), trat das Osmanische Reich im Oktober 1914 in den Krieg ein; es hoffte auf die Rückgewinnung seiner auf dem Balkan verlorenen Territorien. Wie reagierte die Entente auf diese Entscheidung der Osmanen?

Marineminister Churchill, schreibt Richter, hatte mit einem Kriegseintritt der Pforte auf der Seite der Mittelmächte gerechnet. Deshalb trat er für die Bildung einer anti-osmanischen Balkan-Allianz ein und favorisierte einen Überraschungsangriff englischer und griechischer Einheiten gegen die Gallipoli-Halbinsel, um den Weg zur Eroberung Konstantinopels zu öffnen und die Kontrolle über die Meerengen zu erlangen (68). Doch "eine reine Marineunternehmung", kritisiert der Autor, "war zur Zeit des Ersten Weltkrieges angesichts des technischen Fortschritts selbstmörderisch [...]. Die von Churchill und der Marineführung geplante Beschießung der Dardanellen-Forts war ebenfalls völlig verfehlt, denn sie musste den Gegner warnen, dass er dort später größere Angriffe zu erwarten hatte, womit das Überraschungselement auch für eine amphibische Operation verloren ging" (70f).

Mit seiner ausgeprägten Liebe zum Detail schildert Richter den Ablauf der maritimen Entente-Operation in Gallipoli vom Februar 1915. Die Hauptursachen für die Niederlage der Royal Navy und ihres französischen Verbündeten sieht er erstens in den "durch Artillerie und Scheinwerfer gesicherten Minensperren", zweitens in der "naiven" Vorstellung, "dass man mit Flachbahngeschützen Festungen vernichten könnte", und drittens in der "amateurhaften Führung der Admiralty". Zu den Folgen der Niederlage zählt er die Stärkung des Selbstbewusstseins der osmanischen Armee, während die Kriegsambitionen der christlichen Balkanländer gedämpft worden seien (130).

In England wiederum seien ernsthafte Zweifel über den Sinn der Operation aufgekommen. Die angestrebte Eroberung der Gallipoli-Halbinsel, so Richter, war "die erste amphibische Operation gegen eine gut ausgebaute und massiv verteidigte Stellung" (135). Aufgrund operativer Fehler sei die nach dem Misserfolg der Seeangriffe gegen Ende April 1915 begonnene Landungsaktion der Entente zum Scheitern verurteilt gewesen, argumentiert er überzeugend (145). "Wieder wurde die Kampfkraft der türkischen Armee sträflich unterschätzt", führt er weiter aus, "die Zahl der eingesetzten [Entente-]Truppen war völlig unzureichend" (187). Die Dardanellen-Operation, so die Quintessenz des Autors, "war ein ziemlich sinnloses Unternehmen" (278), ohne Einfluss auf den weiteren Kriegsverlauf.

Im zweiten Band seiner Studie widmet sich Richter dem Geschehen auf dem Balkan. Ihm geht es vor allem um die Frage, ob der Sieg der Entente an der Makedonischen Front den Ausgang des Ersten Weltkriegs ernsthaft beeinflusst habe. Die Aufmerksamkeit des Autors richtet sich diesmal auf die politischen Entwicklungen in Griechenland, das bis 1917 neutral blieb, aber von den Mittelmächten und der Entente stark umworben wurde. In Richters Darstellung nimmt Griechenland eine Schlüsselposition ein, da es von den Westalliierten als Operationsbasis benutzt worden ist und die Frage des Kriegseintritts die Athener politische Führung unter starken Druck gesetzt und entzweit hat. Während der "prodeutsche" König Konstantin und der Generalstab für eine - der Entente wohlwollende - Neutralitätspolitik eintraten, drängte der "proenglische" Ministerpräsident Eleftherios Venizelos auf den Kriegseintritt auf der Seite der Entente. Aus diesem Streit ging die "nationale Spaltung" (Ethnikos Dichasmos) hervor, die das Land in einen prorepublikanischen Norden (mit Thessaloniki als "Hauptstadt") und einen proroyalistischen Süden (einschließlich der Athener Kapitale) teilte und an den Rand des Bürgerkriegs brachte (10).

Hier zieht Richter gegen eine in der Öffentlichkeit sehr verbreitete These zu Felde: Es geht um die angebliche "Germanophilie" des griechischen Königs, der mit einer Schwester von Kaiser Wilhelm II. verheiratet war. Die Entstehung dieser These führt Richter auf die "von der Giftküche der Propaganda der Alliierten" geprägte Historiographie zurück (10). Damit hat er sicherlich nicht Unrecht. Auf der anderen Seite aber bestand tatsächlich ein enger Kontakt zwischen Konstantin und Kaiser Wilhelm II., der von der Regierung Venizelos geheim gehalten wurde. Dass Richter an die Argumente des Neutralitätslagers erinnert und diese in den Mittelpunkt rückt, ist das große Verdienst dieses Bandes.

Der griechische König und seine Berater - vor allem der spätere Machthaber, General Ioannis Metaxas - glaubten, dass der Krieg lange dauern werde. Auf keinen Fall wollten sie in eine Kriegsauseinandersetzung mit dem mächtigen Deutschen Reich und der k.u.k. Monarchie hineingezogen werden. Andererseits wollten sie nicht auf der Seite Deutschlands in den Krieg eintreten, weil sie eine Invasion der maritimen Entente-Mächte befürchteten - was letztlich auch geschah. Dem in militärischen Kategorien denkenden Konstantin waren die Risiken eines Kriegseintritts bewusst (31). Zu Recht weist Richter darauf hin, dass der vor allem in der Armee hochangesehene Konstantin dem Druck seines Schwagers Wilhelm II., der zunächst Griechenland auf die Seite der Mittelmächte ziehen wollte, standhielt (30). Auf die von Metaxas in der konservativen Tageszeitung Kathimerini veröffentlichten Artikel über den Ethnikos Dichasmos aus den Jahren 1934 und 1935, die tiefen Einblick in das Denken der Neutralitätsstrategen gewähren, greift der Autor leider nur sporadisch zurück.

Der ehrgeizige Venizelos hingegen, beseelt von der "Großen Idee", hielt die Zeit für gekommen, seine Vision von der (partiellen) Wiederherstellung des Byzantinischen Reichs zu verwirklichen. Es darf allerdings nicht vergessen werden, dass es ihm dabei auch um den Schutz der griechischen Minoritäten in Kleinasien ging, die systematischen Verfolgungen durch die nationalistisch eingestellten Kader des jungtürkischen Regimes ausgesetzt waren. Von einem Sieg der Entente überzeugt, steuerte er auf eine militärische Konfrontation mit dem Osmanischen Reich hin. [1] Seine Außenpolitik war insofern keineswegs "naiv" (33), wie Richter schlussfolgert. Zwar - und hier hat Richter wiederum Recht - war der Staatsmann aus Kreta bereit, alles auf die englische Karte zu setzen. Doch sein Beharren auf Kooperation mit England entsprang realpolitischen Vorstellungen. Venizelos glaubte, dass Griechenland zu Kriegszeiten mit jener Großmacht verbündet sein sollte, die das östliche Mittelmeer beherrschte. Und diese Großmacht war England (32).

Beide Seiten - Konstantin und Venizelos - verfügten über überzeugende Argumente. Ein entscheidender Wendepunkt war die von Venizelos gebilligte Entsendung englischer und französischer Truppen nach Thessaloniki im Herbst 1915, um Serbien militärischen Beistand zu leisten und Griechenland dazu zu bringen, in den Krieg einzutreten (64). Dadurch wurde die Neutralität Griechenlands verletzt und seine Souveränität teilweise aufgehoben (69). Um - aus der Sicht Berlins - das "Gleichgewicht" wiederherzustellen, besetzten deutsche und bulgarische Truppen im Mai 1916 die strategisch wichtige Rupel-Enge in Ostmakedonien. Nun wurde die griechische Neutralität von beiden Kriegsparteien verletzt. Richter vergleicht die kampflose Besetzung des Forts Rupel mit der französischen Besetzung von Karabournou in Thessaloniki. Die Aktion der Mittelmächte - anders als die der Entente - sei defensiver Natur gewesen (86). Doch es gab einen fundamentalen Unterschied zwischen beiden Ereignissen: Rupel war der erste Schritt zur Einverleibung Ostmakedoniens in den bulgarischen Staat. Trotz der deutschen Versicherungen gegenüber Konstantin begannen die bulgarischen Truppen und Freischärler (Komitadzis) mit der Verfolgung der griechischen Bevölkerung.

Der Bedeutung der Besetzung Ostmakedoniens durch bulgarische Truppen hätte Richter mehr Aufmerksamkeit schenken sollen. Diese wirkte wie ein Katalysator für die innergriechischen Entwicklungen. Nach dem Ausbau der revolutionären Bewegung "Nationale Verteidigung" (Ethniki Amyna) initiierte Venizelos die Gründung einer Provisorischen Regierung in Thessaloniki, die von den Entente-Mächten de facto anerkannt wurde (76-78). Von nun an waren Konstantins Tage auf dem Thron gezählt. Auf französischen Druck hin dankte Konstantin im Juni 1917 ab und begab sich ins schweizerische Exil. Dennoch blieb die Monarchie als Institution unangetastet (149-151). In Südgriechenland sorgte das von Venizelos errichtete Regime (1917-1920) für eine beispiellose Säuberung der Streitkräfte, der Verwaltung und der Kirche von vermeintlichen oder tatsächlichen Royalisten (156-158). Namhafte Persönlichkeiten des konstantinischen Lagers, darunter General Metaxas und der national denkende Intellektuelle Ion Dragoumis, wurden verhaftet und nach Korsika verbannt. Zwar vermeidet Richter den Ausdruck, aber es wäre nicht übertrieben, von einer Zeit des Grand Terreur zu sprechen. Die Bezeichnung "venizelistische Tyrannei" machte jedenfalls die Runde.

Nach Venizelos' Kriegserklärung an die Mittelmächte beteiligten sich zehn griechische Divisionen an den letzten Operationen an der Makedonischen Front. "Die griechische Armee", so Richter, "trug punktuell zum alliierten Erfolg bei" (189). Seinem Schlussfazit, dass es sich bei der Makedonischen Front um einen lokalen Sieg der Entente - ohne nennenswerten Einfluss auf die militärischen Vorgänge an der Westfront - gehandelt hat (190), ist ohne Einwände zuzustimmen. Auch zu einer angemesseneren Darstellung - wenn auch etwas überzogen - der Ziele und Beweggründe des "germanophilen" Konstantin leistet er einen wichtigen Beitrag. Insgesamt liefert er ein kompaktes, faktenreiches Werk, das die derzeitige Veröffentlichungsflut über den Ersten Weltkrieg sehr gut ergänzt.


Anmerkung:

[1] Zu Venizelos' Ansichten siehe G. Leontaritis: Griechenland und der Erste Weltkrieg, in: Geschichte der Griechischen Nation, Bd. 15, hg. von Ekdotiki Athinon, Athen 1978 (gr.), 15-46.

Vaios Kalogrias