James Anderson Winn: Queen Anne. Patroness of Arts, Oxford: Oxford University Press 2014, XXI + 792 S., 18 Farb-, 35 s/w-Abb., ISBN 978-0-19-937219-5, GBP 30,00
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Geschichte ist weit davon entfernt, immer gerecht oder gar objektiv zu sein - trotz aller gegenteiligen Behauptungen. Bedürfte es eines Belegs für diese These, so genügte ein kleiner Blick auf Person und Regierung(szeit) Queen Annes I. Stuart von England.
Über die Jahrhunderte hinweg hielt sich das Vorurteil, sie sei eine unfähige, nur auf Berater und Hofschmeichler angewiesene Monarchin gewesen, deren Privatleben überdies von - um nur die harmlosesten der erhobenen Vorwürfe zu benennen - Völlerei, Trunksucht, Müßiggang und dadurch hervorgerufener Wohlstandskrankheit gekennzeichnet gewesen sei. Dass die Königin gar schon zu Beginn ihrer Regierung sogar zu ihrer eigenen Krönung in einem Stuhl getragen werden musste, illustriert für diese Sichtweise aufs Beste das nahezu karikaturhafte Wesen ihrer Existenz, das pars pro toto für einen der lächerlichsten Abschnitte englisch-britischer Geschichte steht und vorgeblich nur noch von der Dekadenz des verrückten George III. übertroffen wird.
Natürlich erschließt sich jedem unvoreingenommenen Betrachter schon kurze Zeit nach Beginn einer seriösen Recherche der Sachverhalt, dass Anne so wenig dekadent war wie George verrückt - allein: Vorurteile haben nicht nur ein langes Leben, ihre simplifizierende, meist auf apokryphen, im schlimmsten Falle schlicht erfundenen Anekdoten beruhende Sicht der Dinge transportiert sich über Memoiren und bon mots hinein in Roman- und Filmwelten, um von daher wieder zurück in die etablierte Geschichtswissenschaft zu kehren.
Vor dem Hintergrund dieser nicht gerade idealen historiografischen Lage, aus der bislang positiv lediglich die sehr schöne Biografie von Edward Gregg herausragte [1], ist jede neue Beschäftigung mit der letzten Stuartmonarchin quasi schon eo ipso als Bereicherung anzusehen. Dass diese Erweiterung von Kenntnisstand und Analyse aber in so umfassender, origineller und grundlegender Weise wie in der hier anzuzeigenden neuen Studie von James Anderson Winn geschieht, ist schlicht als Glücksfall zu bezeichnen.
Wie im Untertitel schon aufscheinend, wählt Winn die musikalische Welt des frühen 18. Jahrhunderts als Ausgangsbasis und erschließt so, tatsächlich oft anhand wörtlicher Zitate aus entsprechenden Werken, in chronologisch wie inhaltlich-analytisch sinnvoll fortschreitenden Kapiteln Leben, Zeit und Wirkmächtigkeit einer großen Monarchin, deren persönliche, weit über die Rahmengesetzmäßigkeiten der Epoche hinausgehende Begeisterung für Musik und Theater sowohl die Grundlage der Arbeit als auch deren Leitfaden bildet. Das Ergebnis präsentiert sich folglich in einem nur als genial zu bezeichnenden Amalgam von künstlerischen, kulturhistorischen und ereignisgeschichtlichen Elementen, welche zusammen - ganz in der Tradition der barocken Allegorie - ein umfassendes Tableau des Untersuchungsgegenstands ergeben.
Was auf den ersten Blick, nicht zuletzt aufgrund der vielen eingestreuten Musikbeispiele (deren Einspielung man sich dank eines beiliegenden Password-Schlüssels auch im Internet anhören kann), als musikhistorische Darstellung wirkt, erschließt sich dem Leser als komplette, tatsächlich vollständige (dieses inflationär verwendete Adjektiv ist hier ausnahmsweise nicht fehl am Platze) Sicht auf eine lange verkannte Persönlichkeit und zugleich als Schlüssel zum Verständnis einer ganzen Kulturwelt samt ihrer politischen, militärischen und wirtschaftlichen Implikationen.
Seriöse Arbeiten zum "englischen Barock", große Synthesen, wie sie - wiewohl meist mit Unterschlagung der Musikgeschichte - etwa Victor-Lucien Tapié zur Abgrenzung von französischem "style classique" und italienisch dominierter Umwelt im restlichen Kontinentaleuropa [2], Benno Hubensteiner zur geistlich-barocken Welt Bayerns [3], oder die Stierlins für den iberischen Raum [4] vorlegten, suchte man bislang nahezu vergebens. Allenfalls wäre hier an Judith Hooks alleinstehenden, nun schon nahezu vierzig Jahre zurückliegenden Ansatz zu denken. [5] In Überblicksdarstellungen, sei es zur Musik-, Kunst- oder allgemeinen Kulturgeschichte der Zeit, entfallen auf die britischen Inseln meist nur wenige Seiten, meist der "Restauration Period" mit ihren Größen wie Christopher Wren, Isaac Newton oder Henry Purcell (der allerdings länger wirkte) gewidmet. Dieser Umstand muss mit dem vorliegenden Werk als erledigt gelten. Winn hat es erreicht, der Queen Anne-Zeit und ihrer königlichen Zentralfigur nicht nur Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, sondern beide als (im wahrsten Sinne des Wortes) originelle Ausprägungen der insgesamt wohl fruchtbarsten kulturellen Epoche der Weltgeschichte deutlich herauszustellen.
Natürlich - und das ist keineswegs als Negativum zu sehen - stellt das vorliegende Werk durchaus erhöhte Anforderungen an den Leser. Die quasi umfassende Vertrautheit des Autors mit Zeit, Stil und Empfindung setzt entsprechende Kenntnisse des Rezipienten, zumindest aber eine entsprechende diesbezügliche Offenheit voraus, welche von den in der behandelten Epoche für ein solches Publikum selbstverständlichen Elementarfähigkeiten, darunter solide Noten- und Literaturkenntnis, begleitet werden sollten. Von daher ist Winns Studie im besten Sinne als elitär zu betrachten, darin Ausweis eines hohen Anspruchs, dem behandelten Gegenstand auf Augenhöhe zu begegnen. Diese Ambition, unterstrichen durch den oben erwähnten methodischen Neuansatz, entzieht das Buch auch aller gängigen modernen Vergleichsansätze und Einordnungsmöglichkeiten. Es wurde tatsächlich zu einer Leistung sui generis, darin dem barocken Individualitätsprinzip durchaus kongruent.
Gerade diese Qualitätsmerkmale lassen es zweifelhaft erscheinen, ob das Werk zahlreiche Nachahmer finden wird oder aber selbst als neue methodische Grundlagenoption gelten kann. Jedenfalls, dies sei nochmals gesagt, hat es sein Hauptanliegen der Neubeleuchtung und -akzentuierung einer bislang eher als sekundär gesehenen Persönlichkeit und Epoche mit Bravour, ganz im Sinne eines echten "re-appraisal" erfüllt und nicht zuletzt einen nachdrücklichen Beweis dafür erbracht, dass dem Genre Biografie nach wie vor innovative und erkenntnisträchtige Neuansätze innewohnen.
Anmerkungen:
[1] Edward Gregg: Queen Anne, London / Boston 1980.
[2] Victor-Lucien Tapié: Baroque et classicisme, Paris 1994 (orig. 1957); vgl. Olivier Chaline / Claire Mazel (éds.): Victor-Lucien Tapié: relire "Baroque et classicisme", Rennes 2014.
[3] Benno Hubensteiner: Vom Geist des Barock. Kultur und Frömmigkeit im alten Bayern, München 1989 (orig. 1967).
[4] Henri et Anne Stierlin: Baroque d'Espagne et du Portugal, Paris 1994.
[5] Judith Hook: The Baroque Age in England, London 1976.
Josef Johannes Schmid