Lise Andries: Bandits, pirates et hors-la-loi au temps des Lumières (= L'Europe des Lumières; 74), Paris: Classiques Garnier 2021, 248 S., ISBN 978-2-406-10989-1, EUR 29,00
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Das große historische Fresko, also der literarisch-historiographische Versuch, ein weit gefasstes Überthema auf zwangsläufig beschränktem Raum der Leserschaft anschaulich zu vermitteln, bildet nicht unbedingt den Schwerpunkt aktueller Verlagskataloge. Eher finden sich dort kleiner gewählte Ausschnitte, entweder in Form von sogenannter Einführungsliteratur bescheidenen Umfangs, oder aber kaum größer konzipierte Fokussierungen dienen der wissenschaftlichen Forschung als Terrain renommierter Fachpublikation, nicht selten in Form von akademischen Qualifikationsarbeiten.
Umso erstaunter ist man, mit der vorliegenden Veröffentlichung von Lise Andries einen enorm weit gesteckten inhaltlichen Aspekt - nicht weniger, denn die vermeintlich gesamte Welt der "Banditen, Piraten und Gesetzeslosen im Zeitalter der Aufklärung", so der Titel - auf relativ überschaubarem Raum von lediglich 217 Textseiten vorgestellt zu bekommen. Dieser offensichtliche Gegensatz zwischen thematischem Anspruch und darstellerischer Breite lässt, sowohl nach einem ersten Durchblättern des Bändchens wie auch nach dessen kompletter Lektüre, nur zwei Beurteilungsvarianten offen. Entweder man verwirft das Ganze als hybrid-megalomanen Entwurf mit unbefriedigendem Ausgang, oder man versucht, das Spezifische der eindeutig sehr reduzierten Darstellung zu würdigen.
Ersteres könnte das Argument ins Feld führen, dass hier der Versuch unternommen wurde, ein viel zu weites Feld lediglich in Hinweisen, Anspielungen und Auflistungen abzustecken, die für sich noch nicht einmal den Charakter eines Überblickswerkes beanspruchen können. Wenn - um von zwangsläufig vielen Beispielen nur einige anzuführen - aus der Masse der Piraten so unterschiedlich relevante und wirkmächtige Figuren wie Blackbeard (eigentlich Edward Teach, 1680-1718) oder die Gebrüder Laffite nur en passant jeweils einmal erwähnt werden, so ist das Desiderat deutlich spürbar.
Die zweite Herangehensweise ist ungleich komplexer und schwieriger; sie sollte von zwei Richtungen aus erfolgen. Zum einen vom beruflichen Motivationshintergrund der Autorin, zu der der Band nur wenig Angaben bietet. Erst ein Online-Verlagskatalog informiert uns, daß Mme Andries "est directrice de recherche au CNRS, membre du CELLF (CNRS-Université de Paris IV-Sorbonne). Elle est spécialiste de la littérature populaire en France du XVIIe au XIXe siècles." [1] Löst man die in Frankreich so gängigen Kürzel auf, so ergibt CELLF das an der Pariser Sorbonne ansässige Centre d'étude de la langue et des littératures françaises [2]. Dies, gepaart mit dem Hinweis auf das eigentliche berufliche Umfeld der Autorin als Literaturhistorikerin, versetzt das vorliegende Buch in eine ganz andere Sphäre: das zugegebenermaßen mitunter spärliche Gerüst des weiten Ansatzes erweist sich als Rahmen einer auf literarische Produktion und deren inhaltliche wie geistesgeschichtliche Hintergründe abhebenden Analyse. Erst so wird jetzt die anfangs etwas befremdliche Unterscheidung, etwa des Registers in historische und fiktive Charaktere, verständlich.
Wer also bereit ist, sich von den Erwartungen des sehr (zu?) allgemein formulierten Titels zu verabschieden, erhält hier einen intelligent aufbereiteten tour d'horizon durch ein an sich schon kaum erschlossenes, in der spezifischen Fragestellung literaturhistorischer Konnotation nahezu unbearbeitetes Sujet. Vielleicht ist der Bogen trotz allem ein wenig weit gespannt, aber dennoch bleibt der Wille nach einem durchdachten Ganzen stets präsent. Sicher hätte man, bei entsprechender thematischer Beschränkung, einige gerade der allgemeinen Kulturgeschichte verhaftete Aspekte, wie etwa die aus dem Thema so reich fließende Landschaft aus epochenübergreifender, nicht nur zeitgenössischer Mythologisierung, theatralischem Echo und auch unterhaltungsmedialer Rezeption - vor allem im Film! - mit berücksichtigen können.
Doch auch so kann der kleine Band als interessante Einführung in vielfach unberücksichtigte Wirkungszusammenhänge dienen, dessen potentielle Nachfolger dann ja gegebenenfalls noch andere Aspekte aufarbeiten können. In diesem Sinne - eine eindeutig positive Anregung.
Anmerkungen:
[1] Vgl. https://www.lcdpu.fr/livre/?GCOI=27000100170780&fa=author&Person_ID=7881&PublisherGCOICode=27000 , (20.11.2021).
[2] Vgl. die offizielle Website des Instituts: https://lettres.sorbonne-universite.fr/structures-de-recherche/centre-detude-de-la-langue-et-des-litteratures-francaises , (24.11.2021).
Josef Johannes Schmid