Berthold Unfried: Vergangenes Unrecht. Entschädigung und Restitution in einer globalen Perspektive, Göttingen: Wallstein 2014, 541 S., ISBN 978-3-8353-1531-0, EUR 46,00
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Seit in den 1990er-Jahren das Thema materieller Wiedergutmachung für historisches Unrecht zu einem gewichtigen Faktor internationaler Politik geworden ist, sind verschiedene Versuche gemacht worden, dieses Phänomen in einem größeren Zusammenhang zu verstehen. Mit dem Buch des Wiener Historikers Berthold Unfried liegt nun erstmals eine ausführliche deutschsprachige Darstellung zum Thema vor. Der Untertitel "Entschädigung und Restitution in einer globalen Perspektive" erscheint allerdings etwas irreführend: Zwar werden am Anfang des Buches die weltweite Konjunktur von Wiedergutmachungsdiskursen, Entschädigungsforderungen für Sklavenhandel und Kolonialverbrechen sowie die Einrichtung von Wahrheitskommissionen nach südafrikanischem Vorbild kurz gestreift; diese Dinge spielen letztlich aber keine tragende Rolle. Im Kern geht es dem Autor um einen weiteren Rückblick auf jene Debatten an der Wende vom 20. zum 21. Jahrhundert, die sich um die Rückerstattung von im Nationalsozialismus entzogenem Vermögen drehten und unter dem Schlagwort der Holocaust Era Assets geführt wurden.
Als Untertitel wäre eher "Entschädigung und Restitution in einer österreichischen Perspektive" passend gewesen. Denn die persönliche Erfahrung des Autors, der an der österreichischen Historikerkommission als Mitarbeiter beteiligt war und einige spektakuläre Restitutionsfälle im Land kritisch mitverfolgt hat, erweist sich für seine Sichtweise auf das Geschehen als entscheidend. Die Darstellung konzentriert sich ganz auf die Wiedergutmachung von Eigentumsverlusten und legt den Fokus im Wesentlichen auf Österreich sowie auf Frankreich und die Schweiz. Ein wichtiger Schwerpunkt liegt dabei auf der Arbeit von Historikern und Historikerinnen als Experten in Restitutionsangelegenheiten, wie sie nicht zuletzt in der Einrichtung von Historikerkommissionen in den genannten Ländern ihren Niederschlag gefunden hat. Auch wenn der Autor immer wieder seine breite Sach- und Literaturkenntnis demonstriert, schrumpft der Gegenstandsbereich des Buches so doch bei genauerem Hinsehen ganz erheblich zusammen.
Der Text setzt sich aus recht unterschiedlichen Segmenten zusammen. Einige Kapitel und Unterkapitel liefern eher einen synthetisierenden und typisierenden Überblick aus der Vogelschau, einige begeben sich auf eher theoretisches Terrain, andere steigen in die detaillierte Analyse von Fallbeispielen ein. Durchgehend ist die Darstellung indes von einer kritischen und häufig auch polemischen Abrechnung mit der Restitutionsbewegung geprägt. Im Zentrum dieser Kritik steht der bei zahlreichen Akteuren der von Unfried "Milleniumsentschädigungsrunde" genannten Bewegung zu Tage tretende und auch massenmedial verbreitete Irrglaube, es habe seit 1945 nie eine Restitution von im Nationalsozialismus entzogenem Vermögen stattgefunden. In Wirklichkeit gab es jedoch in fast allen europäischen Staaten in der unmittelbaren Nachkriegszeit umfangreiche Entschädigungs- und Rückerstattungsprogramme, die allerdings die Belange individueller NS-Opfer tendenziell zugunsten des allgemeinen wirtschaftlichen Wiederaufbaus zurückstellten. Dass die Ergebnisse der Nachkriegsrestitution in den 1990er-Jahren noch einmal aufgerollt und neu verhandelt wurden, führt Unfried auf die Interessen eines US-amerikanisch dominierten Erinnerungs- und Entschädigungsbusiness zurück, das sich gezielt "schwache Glieder der westeuropäischen Staatenwelt" (121) wie die Schweiz und eben Österreich vornahm. Auf der Basis von "Enthüllungen, die sich nachträglich als in substanziellen Teilen falsch oder übertrieben herausstellen sollten" (ebd.) und mit den Druckmitteln von Sammelklagen und Boykottdrohungen seien noch einmal umfangreiche Entschädigungsfonds ausgehandelt worden, bei denen sich finanzielle Ausstattung und Anspruchskriterien von historischer Evidenz weitgehend entkoppelten. Als ideologischer Überbau dieser von class action lawyers und jüdischen Organisationen geführten Bewegung fungiere eine US-dominierte Geschichtspolitik, die die europäischen Staaten auf Holocaust und Vermögensentzug als zentrale Fluchtpunkte der Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg zu verpflichten suchte. Den Historikerkollegen und Historikerkolleginnen wirft Unfried vor, sich in diesem Zusammenhang allzu häufig zu "Moralexperten" (285) aufgeschwungen und ihre Expertise in den Dienst materieller Privatinteressen gestellt zu haben.
Seinen kritischen Standpunkt entfaltet der Autor in komplexer Weise und auf empirisch breiter Grundlage, die durch neueste Archivbestände und Dutzende Interviews mit vor allem österreichischen und französischen Akteuren gebildet wird. In vielen Fragen trifft er auch zweifellos einen richtigen Punkt. Tatsächlich war die Restitutionsbewegung der 1990er-Jahre von zum Teil grober Unkenntnis der bisherigen Wiedergutmachungsgeschichte getragen, die sich in der Öffentlichkeit hartnäckig festgesetzt hat. Ohne Zweifel hat die US-Sammelklagebewegung gegen europäische Unternehmen zynisch-zwielichtige Profitjäger wie Edward Fagan hervorgebracht, der mittlerweile vom Anwaltsberuf ausgeschlossen wurde. Und tatsächlich ist es richtig, dass, besonders deutlich im Falle des Schweizer Entschädigungsfonds, die Aushandlung einer Entschädigungssumme eher den aktuellen Macht- und Kräfteverhältnissen folgte als sich auf die eigentlichen historischen Geschehnisse zu beziehen. Was die bei Schweizer Banken verbliebenen nachrichtenlosen Konten von Holocaust-Opfern anging, waren in der Öffentlichkeit in der Tat vollkommen übertriebene Erwartungen geweckt worden; ein Entschädigungsabkommen wurde indessen bereits unterzeichnet, bevor die mit einer Untersuchung beauftragte Expertenkommission ihre Ergebnisse vorgelegt hatte. In der Folge ergaben sich bei dem mit 1,25 Mrd. Dollar ausgestatteten Fonds Probleme, überhaupt genügend Anspruchsberechtigte zu finden, weswegen die Verfahrensstandards sehr niedrig angesetzt wurden. Es ist unbedingt legitim und erhellend, diese Frag- und Merkwürdigkeiten der Holocaust Era Assets-Bewegung herauszuarbeiten.
Problematisch ist allerdings, dass der Autor den von ihm untersuchten Teilbereich und wenige im Buch immer wiederkehrende Einzelfälle als pars pro toto für die Wiedergutmachung von NS-Unrecht seit den 1990er-Jahren ausgibt und für eine Gesamtdeutung universalisiert. In eine solche Gesamtsicht würde aber auch die erstmalige Entschädigung Hunderttausender europäischer NS-Zwangsarbeiter gehören, die nur auf wenigen Seiten gestreift wird. Warum dieses von seinem finanziellen Volumen viel umfangreichere Entschädigungsprogramm ein "Sonderfall" (231-235) sein soll, während die im Buch in den Fokus gerückten Programme dagegen das eigentlich Wesentliche und Maßgebliche darstellen, teilt sich dem Leser nicht mit. Gar nicht erst erwähnt werden die umfangreichen Entschädigungsabkommen, die die Bundesrepublik und die Jewish Claims Conference seit den 1990er-Jahren für bedürfte Holocaust-Überlebende aus osteuropäischen Staaten abgeschlossen haben. Auf diese und weitere Aspekte der Wiedergutmachung für NS-Unrecht treffen die kritischen Charakteristika, die in dem Buch herausgearbeitet werden, so nicht zu.
Problematisch erscheint jenseits der Sachebene auch, dass der Autor seine Sprecherrolle, aus der heraus er sich zur Kritik legitimiert sieht, sowie die Maßstäbe dieser Kritik nicht hinreichend offenlegt. Zwar erwähnt er seine persönliche Involviertheit, das Problem liegt jedoch tiefer. Sich selbst schreibt er einen nüchtern-analytischen Zugang zum Thema zu, der auf "Erkenntnisgewinn über vergangene Wirklichkeiten und sonst zunächst nichts" (255) ausgerichtet sei. Doch schwingen durch weite Teile des Textes hindurch implizite Werturteile mit, und politische Positionen werden als wissenschaftliche Befunde ausgegeben. De facto kann von einer "nüchternen Analyse" aber in vielen Passagen schon offensichtlich kaum die Rede sein, ist doch der Ton häufig von Polemik, Ironie und sarkastischer Vergröberung geprägt, die bisweilen sogar ins Stammtischhafte abzugleiten droht.
Unklar erscheint schließlich der zeitliche Horizont des Buches. Durchgehend erweckt die Darstellung den Eindruck, man befinde sich immer noch mitten in den geschilderten Prozessen und Dynamiken um die NS-Restitution. In der Tendenz zur diskursiven Vererbung des Opferstatus auf die Nachkommen von Holocaust-Überlebenden sieht der Autor eine potentielle Verewigung der Restitutionsthematik. Tatsächlich folgten die Vorgänge um die Holocaust Era Assets jedoch einer Konjunktur, die nach der Jahrhundertwende aus Gründen, die zu analysieren durchaus lohnen würde, merklich abgeflaut ist. Für den Autor, der sich bereits vor über zehn Jahren kritisch zum Thema geäußert hat [1], scheinen sie indes ewige Gegenwart geblieben zu sein.
Das Buch hätte sehr gut als eine Studie über die Arbeit der Historikerkommissionen und die Praxis der Entschädigungsfonds in Österreich, Frankreich und der Schweiz funktionieren können. Die entsprechenden Kapitel gehören zu den besten und informativsten Teilen des Buches, in dieser Dichte sind beide Komplexe bisher in der Literatur noch nicht untersucht und in einen größeren Zusammenhang gestellt worden. Für eine Gesamtdarstellung, die sich an historisch interessierte Leser richtet, erscheint jedoch der Blickwinkel zu schmal, die Beurteilungsperspektive zu stark persönlich gefärbt, werden zu häufig Deutung und Polemik schon vorausgeschickt, bevor die thematisierten Vorgänge überhaupt entfaltet und dem Leser vor Augen geführt worden sind. Ein etwas wirrer Aufbau, zahlreiche Rück- und Vorausverweise, unzählige Wiederholungen sowie die oftmals abrupte Einführung von Sachverhalten, Institutionen und Personen, die dann nicht oder erst viel später im Text weiter erklärt werden, dürften die Lektüre gerade für sachunkundige Leser zusätzlich erschweren.
Anmerkung:
[1] Berthold Unfried: Restitution und Entschädigung von entzogenem Vermögen im internationalen Vergleich. Entschädigungsdebatten als Problem der Geschichtswissenschaft, in: Zeitgeschichte 30 (2003), 243-267.
Benno Nietzel