Mechthild Gilzmer / Hans-Jürgen Lüsebrink / Christoph Vatter (Hgg.): 50 Jahre Elysée-Vertrag (1963-2013) / Les 50 ans du traité de l'Elysée (1963-2013). Traditionen, Herausforderungen, Perspektiven / Traditions, défis, perspectives (= Frankreich-Forum. Jahrbuch des Frankreichzentrums der Universität des Saarlandes; Bd. 13), Bielefeld: transcript 2014, 342 S., ISBN 978-3-8376-2653-7, EUR 33,99
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Der Elysée-Vertrag war die historische Wendemarke in der Geschichte zweier Nachbarländer, deren Beziehungen in Folge des Vertragswerkes eine Metamorphose von einer Erbfeindschaft hin zu Freundschaft und Ausgleich erlebten. So suggerieren es zahllose historische Abhandlungen, so empfinden es viele Menschen. Über dieses dominante Narrativ der deutsch-französischen Freundschaft hinauszugehen und eine differenzierte Einschätzung der bilateralen Beziehungen zu liefern, setzt sich das Frankreichzentrum der Universität des Saarlandes anlässlich des 50-jährigen Jubiläums des Vertrages zum Ziel. Aussöhnung, Freundschaft und Transfer (aber auch Rückschläge und Konflikte) begannen auf zivilgesellschaftlicher Ebene, lange bevor de Gaulle und Adenauer den Vertrag unterzeichneten - so die Generalthese dieses Jahrbuches, welches sich einer sanften De-Mythologisierung des Vertrages verpflichtet sieht, ohne erschöpfend und abschließend über den Zustand der deutsch-französischen Beziehungen urteilen zu wollen. Inspiriert von einer öffentlichen Ringvorlesung im Sommer 2013, führen die Beiträge dieses Bandes unterschiedliche disziplinäre Blickwinkel und thematische Zugänge zusammen, in deren Fokus "politische, kultur- und medienwissenschaftliche, interkulturell-vergleichende, wirtschaftliche und institutionelle Fragestellungen" (15) stehen. Dabei sehen sich die Herausgeber durchaus der geografischen Situation und universitären Tradition des Saarlandes und seiner Hochschule verpflichtet, die in zahlreichen Beiträgen thematisiert werden.
Den Kern des Bandes bildet - schon allein quantitativ - das Kapitel der politischen, juristischen und wirtschaftlichen Analysen zu den Beziehungen beider Länder. Corine Defrance und Ulrich Pfeil erinnern an die lange Vorgeschichte der deutsch-französischen Aussöhnung seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und suchen einen an Fakten orientierten Zugang zur deutsch-französischen "Erfolgsgeschichte", um den Elysée-Vertrag als Erinnerungsort zu konzeptualisieren. Während Philippe Cossalter den Transfers, Brüchen und Kontinuitäten der deutschen und französischen universitären Rechtswissenschaften im 19. und 20. Jahrhundert nachgeht, untersucht Gregor Halmes, wie zwei so deutlich unterschiedliche Politik- und Verwaltungssysteme wie das deutsche und französische eine so fruchtbare Kooperation auf allen Ebenen eingehen konnten. Während René Lasserre den "Motor" der deutsch-französischen Wirtschaftskooperation untersucht und auf zunehmende Ungleichgewichte zu Lasten Frankreichs stößt, geht Christoph K. Hahn der Frage nach, ob im Saarland und in Lothringen tatsächlich eine grenzüberschreitende "Automobilregion" realisiert wurde. Grenzüberschreitende "Metropolregionen" wiederum werden von H. Peter Dörrenbächer in seinem aufschlussreichen Beitrag als "Laboratorien" und "Modelle der europäischen Integration" sowie als "integraler Teil der territorialen Europäisierung" (177) beschrieben.
Das Kapitel zur Medien- und Kulturgeschichte wird von Hans-Jürgen Lüsebrink eingeleitet, der die emotionsgeschichtliche Seite der deutsch-französischen Beziehungen untersucht und schließlich zu ähnlichen Befunden wie Peter Sloterdijk in einem provokativen Essay aus dem Jahr 2008 [1] kommt: Die deutsch-französischen Beziehungen waren zwischen den Befreiungskriegen und dem Ende des Zweiten Weltkrieges von einer komplexen Hassliebe geprägt, welche seit dem Elysée-Vertrag einer nüchternen Distanz - einer "Entfaszination" - gewichen ist, die ihren Niederschlag im abnehmenden Interesse an der Sprache, Kultur und Geschichte des Nachbarn findet. Dennoch plädiert Lüsebrink für eine Wiederentdeckung und -erweckung des mehr affektiven Zugangs zum Nachbarland, wie er die Nachkriegsjahrzehnte zunächst prägte. Christoph Vatter und Mechthild Gilzmer untersuchen in ihren Beiträgen die deutsch-französischen Beziehungen im Zusammenhang mit Film und Fernsehen. Vatter schildert anhand einer Reihe von Fallstudien die "deutsch-französischen Filmbeziehungen als eine in komplexer und vielschichtiger Art und Weise miteinander verwobene histoire croisée" (60), während Gilzmer zwei erfolgreiche TV-Serien - "Un village français" und "Die Flucht" - heranzieht, um die Ausdifferenzierung und Normalisierung der Geschichtsbilder in Frankreich und Deutschland zu belegen.
Ein drittes, mit "Erfahrungen und Perspektiven" überschriebenes und etwas disparat geratenes Kapitel enthält persönliche Zeugnisse der deutsch-französischen Beziehungen. Die Autorin Anna Tüne berichtet in Ausschnitten ihres autobiografischen Romans "Von der Wiederherstellung des Glücks" von der schwierigen, aber schließlich gelungenen Integration einer deutschen Flüchtlingsfamilie in der französischen Provinz nach dem Zweiten Weltkrieg. Im ursprünglich im Berliner Tagesspiegel erschienenen Artikel "Merkiavellis Rätsel" geht der Publizist Manfred Flügge hart mit den französischen Medien ins Gericht, welchen er die instrumentelle Pflege überkommener Deutschlandbilder vorwirft. Schließlich erläutert der ehemalige Leiter des Pariser Goethe-Instituts, Joachim Umlauf, den Entstehungskontext des von ihm mitherausgegebenen "Lexikons der deutsch-französischen Kulturbeziehungen nach 1945" [2] und konstatiert mit einer guten Portion Selbstironie, dass Jammern und Klagen für die deutschen und französischen Kulturmittler und Experten wohl zum Alltagsgeschäft gehöre.
An die wissenschaftlichen Beiträge und Zeugnisse schließt sich eine Sektion "Berichte" an, in der Jan Rhein auf die deutsch-französisch-georgische Sommeruniversität eingeht, welche im August und September 2013 in Saarbrücken und Nantes sowie im Sommer 2014 in Tiflis zum Thema "Die Zukunft unserer Städte" stattfand. In der gleichen Sektion berichtet schließlich Wolfgang Müller über die internationale Vernetzung der Universität des Saarlandes. Abgerundet wird das Jahrbuch von einem umfangreichen Rezensionsteil, in welchem seit 2011 erschienene, einschlägige Publikationen besprochen werden.
Auch wenn die Herausgeber nicht den Anspruch einer abschließenden Bilanz erheben, präsentieren die Beiträge ein sehr durchwachsenes Bild des deutsch-französischen Miteinanders in historischer und aktueller Perspektive. Im politisch-wirtschaftlichen Feld bleibt das heute Erreichte meist mehr oder weniger deutlich hinter den Zielsetzungen und Ansprüchen zurück. Auch der zivilgesellschaftliche Austausch breiterer Bevölkerungsschichten - etwa in den Bereichen Schüleraustausch, schulische Sprachkenntnisse, Populärkultur und Massenmedien - ist gegenüber den 1960er-Jahren klar rückläufig, ganz zu schweigen von der allgemeinen "Entfaszination", die Sloterdijk und Lüsebrink hervorheben. Zugleich intensivieren sich der Austausch und das gegenseitige Interesse im Bereich der "Elitenkulturen" (19), wie sich beispielsweise an den Feuilletons qualitativ gehobener Zeitungen oder an deutsch-französischen Programmen und Kooperationen im Bereich von universitärer Forschung und Lehre ablesen lässt. Den Herausgebern und Beiträgern ist es mit ihrem breiten Ansatz gelungen, den Stand der bilateralen Beziehungen stichprobenartig auszuloten und dabei insbesondere die im Untertitel avisierten "Herausforderungen" der deutsch-französischen Beziehungen deutlich zu machen.
Anmerkungen:
[1] Peter Sloterdijk: Theorie der Nachkriegszeiten. Bemerkungen zu den deutsch-französischen Beziehungen seit 1945, Frankfurt am Main 2008.
[2] Nicole Colin / Corine Defrance / Ulrich Pfeil / Joachim Umlauf (Hgg.): Lexikon der deutsch-französischen Kulturbeziehungen nach 1945, Tübingen 2013.
Philip Bajon