Christiane Liermann Traniello / Ubaldo Villani-Lubelli / Matteo Scotto (Hgg.): Italien, Deutschland und die europäische Einheit / Italia, Germania e l'unità europea. Zum 30-jährigen Jubiläum des Berliner Mauerfalls / Riflessioni a trent'anni dalla caduta del Muro di Berlino (= Aurora. Schriften der Villa Vigoni; Bd. 7), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2019, 146 S., 2 s/w-Abb., ISBN 978-3-515-12483-6, EUR 38,00
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Die Entwicklung des deutsch-italienischen Verhältnisses ähnelt einer Schere, die sich immer wieder öffnet und schließt, konstatiert Beda Romano in dem anzuzeigenden Band. Je nach Perspektive scheinen beide Länder weit voneinander entfernt, aber gleichzeitig dicht nebeneinander zu sein. Lange wurden die deutsch-italienischen Ähnlichkeiten betont. Für den Zeitraum zwischen 1860 und 1990 entstanden unzählige Etiketten der Geschichtsschreibung, vom Bild der "verspäteten Nationen" bis hin zur Vorstellung einer "parallelen Geschichte". Solche Etiketten stützten sich auf historische Marksteine in der Geschichte Deutschlands und Italiens, darunter eine "späte" Nationalstaatsgründung, die totalitären Erfahrungen zwischen 1922/33 und 1945 sowie die Rolle der Christdemokraten im Nachkriegswiederaufbau und die starke Bindung an die westliche Welt. Zählebige Topoi und Mythen haben darin einen Nährboden gefunden.
Erst nach 1990 wurden solche Etiketten langsam in Frage gestellt. Die Forschung richtete ihr Augenmerk weniger auf eine idealtypische Übereinstimmung, sondern zunehmend auf die Interaktion zwischen Italien und Deutschland - und zwar jenseits eines strengen bilateralen Korsetts. Die vorliegende Publikation fügt sich in diese langfristige Tendenz ein und zeigt, wie mühsam Zusammenarbeit mehr denn je ist. Ausgehend von der Kardinalthese, dass der sogenannte Fall der Berliner Mauer, räumlich wie zeitlich mehr als eine deutsche (Erfolgs-)Geschichte oder nur ein deutscher Wendepunkt war, sondern vielmehr eine tektonische Verschiebung von europäischer Bedeutung bewirkte, bleiben Christiane Liermann Traniello und ihr Mitherausgeber nicht auf der Ebene von Aktionen einzelner Politiker stehen. Viel mehr gehört es zu den erklärten Zielen dieses Sammelbandes, sich an den öffentlichen Debatten zum dreißigsten Jubiläum des "Mauerfalls" zu beteiligen. Dabei werden Vorstellungen wie die der "parallelen Geschichte" und der "verspäteten Nationen" nicht umgangen, sondern behutsam in Frage gestellt; schon darin liegt ein Verdienst der Publikation.
Es fällt Menschen schwer, in krisenhaften Situationen vernünftige und nicht rein emotionale Entscheidungen zu treffen. Besondere Schwierigkeiten bereiten Phasen, in denen sich Entwicklungen exponentiell beschleunigen, Orientierungspunkte fehlen und der Ausgang ungewiss ist. Dies trifft auf die Ereignisse 1989/90 und das Jahrzehnt danach zu, mit denen sich die Geschichtswissenschaft in den letzten Jahrzehnten gründlich beschäftigt hat. Das größte Interesse galt zunächst den innerdeutschen Entwicklungen, später den Reaktionen Frankreichs, Großbritanniens, der UdSSR und der USA. Was dagegen am Vorabend des dreißigsten Jahrestags des Mauerfalls noch fehlte, waren Untersuchungen über die Perzeptionen und Reaktionen seitens anderer europäischen Länder, sowohl auf bilateraler Ebene als auch in ihren europäischen Rückwirkungen. Das galt auch für die Rolle Italiens. [1]
In der Fachliteratur erfreut sich der Beitrag Italiens zur europäischen Integration gemeinhin eher geringer Beachtung, und es ist lobenswert, dass dieses Sammelwerk dem entgegenwirkt. Im Gegensatz zu anderen Arbeiten, die die Einschätzungen und Reaktionen Italiens bzw. anderer europäischer Nachbarländer auf die sich vollziehende deutsche Einheit detailliert analysierten, nimmt dieser Sammelband den Mauerfall eher zum Anlass, alte und neue Herausforderungen für die Politik und Historiographie in Italien und Deutschland in einem sich schnell wandelnden Europa zu benennen, zu definieren und letztendlich einzuordnen. Eine detaillierte Analyse der Aktionen und Reaktionen Italiens 1989/90 fehlt dagegen. [2]
Im einführenden Teil wird dem Leser durch ein Gespräch des Politologen Tilman Mayer und dem Bonner Soziologen Clemens Albrecht eine kurze Auseinandersetzung mit Themen der deutschen Geschichte sowie mit brennenden aktuellen Fragen geboten. Folgt man deren Ausführungen, steigert sich die historische Bedeutung des Mauerfalls zu einem Wendepunkt der europäischen Geschichte. Im Weiteren ist der Sammelband nach systematischen Gesichtspunkten gegliedert. Geht es im ersten Teil um das Jahr 1989 aus deutscher und italienischer Perspektive, behandelt die zweite Hälfte des Buches die kurz-, mittel- und langfristigen Rückwirkungen dieser Zäsur auf die Geschichte und Entwicklungen Europas. Hervorzuheben ist die Entscheidung, Experten unterschiedlicher Fachbereiche das Wort zu erteilen. So werden Gemeinsamkeiten und Unterschiede der deutschen und italienischen Wirtschaftsmodelle analysiert, die Gründe hinter der angeblichen wachsenden schleichenden Entfremdung [3] zwischen der italienischen und deutschen politischen Elite in den letzten dreißig Jahren beleuchtet sowie die Beiträge beider Länder zur Rechtsentwicklung diskutiert. Überdies gehen die Autoren Fragen des gescheiterten europäischen Verfassungsprozesses, einer europäischen Verteidigung sowie der Bedeutung von Menschenrechten und sozialer Marktwirtschaft nach. Die Publikation schließt mit einem letzten Kapitel, in dem Eva Heidbreder die Implikationen und mögliche Entwicklungschancen Deutschlands und Italiens in der zünftigen Europäischen Union analysiert.
Ein weiteres Verdienst des vorliegenden Bandes besteht darin, dem Leser zu zeigen, wie komplex und facettenreich die neuen Herausforderungen für beide Länder im europäischen Kontext sind. Hier könnte man jedoch fragen, wie die Antworten Italiens und Deutschlands auf diese Herausforderungen von anderen EU-Mitgliedern rezipiert wurden und werden. Störend wirkt, dass einige Begriffe wie Mezzogiorno, Nord-Süd-Spaltung und mediterrane Industrialisierung nicht hinreichend problematisiert werden. Zudem sind einige Kernfragen, insbesondere der Komplex deutsche Einheit, europäische Integration und der deutsche Verzicht auf die D-Mark lediglich angedeutet. Weder haben die Autoren deren Implikationen vertieft, noch wird auf die umfangreiche wissenschaftliche Literatur verwiesen. Derlei schmälert aber die Leistung der Autoren nur in geringem Maße. Dank seines kompakten, aber gleichzeitig gut strukturierten Aufbaus, seiner eingängigen und gleichzeitig wissenschaftlich fundierten Inhalte und nicht zuletzt seines Reichtums an verschiedenen Ansätzen erfüllt dieser Band auf nachvollziehbare Weise die Aufgabe, die sich die Villa Vigoni seit ihrer Gründung gestellt hat: die deutsch-italienischen Beziehungen in europäischem Geist zu beleben.
Anmerkungen:
[1] Vgl. dazu inzwischen Michael Gehler / Maximilian Graf (Hgg.): Europa und die deutsche Einheit. Beobachtungen, Entscheidungen und Folgen, Göttingen 2017.
[2] Vgl. Deborah Cuccia: There are two German States and two must remain? Italy and the long Path from the German Question to the Re-unification, Hildesheim 2019.
[3] Gian Enrico Rusconi / Thomas Schlemmer / Hans Woller (Hgg): Schleichende Entfremdung? Deutschland und Italien nach dem Fall der Mauer, München 2009. Vgl. dazu die Rezension http://www.sehepunkte.de/2008/09/14689.html [24.05.2020].
Deborah Cuccia