Friedrich Beiderbeck / Stefanie Ertz / Wenchao Li u.a. (Bearb.): Gottfried Wilhelm Leibniz: Sämtliche Schriften und Briefe. Vierte Reihe: Politische Schriften. Band 8: 1699-1700, Berlin: De Gruyter 2015, LXIX + 788 S., ISBN 978-3-05-006507-6, EUR 259,95
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Eines der ältesten deutschen Editions-Großprojekte ist das der "Sämtliche[n] Schriften und Briefe" von Gottfried Wilhelm Leibniz, die seit 1923 in acht Reihen erscheinen, heute unter der gemeinsamen Herausgeberschaft der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen. Angesichts des Umfangs und der Heterogenität des wohl bedeutendsten Nachlasses eines frühneuzeitlichen deutschen Gelehrten, der in unterschiedlichen Sprachen einen ausgedehnten Briefwechsel mit Persönlichkeiten in ganz Europa unterhielt und sich in größeren oder kleineren Beiträgen zu nahezu allen politischen, religiösen und wissenschaftlichen Fragen seiner Zeit äußerte, handelt es sich hierbei um eine wahrhaft herkulische Aufgabe. Erfreulicherweise hat das Projekt nach auch organisatorisch bedingten eher trägen Phasen erkennbar Fahrt aufgenommen. Bis zu drei Bände pro Jahr sind in letzter Zeit erschienen. Der Wissenschaft werden nicht nur die bereits im Druck erschienenen, sondern auch noch in Bearbeitung befindliche Texte online als Open-Access-Dokumente zugänglich gemacht [1], womit die Leibniz-Edition in hohem Maße die Ansprüche an ein zeitgemäßes Editionsunternehmen erfüllt.
Der hier anzuzeigende achte Band der vierten Reihe ("Politische Schriften") deckt mit 1699 und 1700 zwei Jahre ab, die auf europäischer Ebene im Zeichen der akut werdenden spanischen Erbfolgefrage standen. Diesem Themenfeld sind immerhin 14 Texte zugeordnet, die alle nach dem 1. November 1700, also nach dem Tod des letzten spanischen Habsburgers Karl II., entstanden sind, zumindest einige offenbar auch erst 1701. Die umfangreichste von diesen Schriften ist der "Conspectus brevis juris Austriaci in successionem Hispanicam" (Nr. 29, 163-184). Darin unterstützte Leibniz die österreichischen Ansprüche auf das spanische Erbe, allerdings durchaus vorsichtig abwägend. So kam er nach einer sorgfältigen Analyse der geltenden Erbrechte und der darauf basierenden Ansprüche und einer Untersuchung über die Gültigkeit der Renuntiationen der nach Frankreich verheirateten spanischen Infantinnen zu dem Schluss, dass Kaiser Leopold I. als Sohn der Infantin Maria Anna (die ja keinen Erbverzicht geleistet hatte) zwar das gesamte spanische Erbe zustehe, bewertete aber die österreichischen Ansprüche auf die italienischen und niederländischen Nebenlande auch unter lehnsrechtlichen Gesichtspunkten als besonders stark: Wenn man aufgrund der Ungunst der Zeitumstände nicht mehr erreichen könne, müssten zumindest diese Ansprüche berücksichtigt werden; sonst könne eine friedliche Regelung nicht erreicht werden (182). Damit deutete Leibniz die Möglichkeit an, dass Spanien für die österreichischen Habsburger unerreichbar bleiben werde und nahm so in seiner Analyse sozusagen die Lösung vorweg, die nach dem Spanischen Erbfolgekrieg in den Friedensschlüssen von Utrecht, Rastatt und Baden (1713/14) gefunden wurde. Auch vier der in einer eigenen Rubrik abgedruckten Gedichte (Nr. 116-119) beschäftigen sich mit der spanischen Erbfolgefrage, darunter ein kurzes Epigramm (Nr. 116), in dem Leibniz angesichts der anbrechenden französischen Herrschaft spöttisch die Italiener aufforderte, auf ihre Frauen aufzupassen: "Servate uxores Itali" (632).
Schon seit Jahrzehnten beschäftigte sich Leibniz mit dem Themenkomplex der Einheit der christlichen Kirche. Dieses Problem trieb ihn auch in den Berichtsjahren um. Bei einem Wienaufenthalt Ende 1700 hatte er die Gelegenheit, umfangreiche Exzerpte aus dem Nachlass des 1695 verstorbenen Bischofs von Wiener Neustadt Cristobal de Rojas y Spinola, seines langjährigen Gesprächspartners in den Verhandlungen um eine Reunion der Protestanten in die katholische Kirche, anzufertigen, die ihn selbst zu weiteren Überlegungen bezüglich der Voraussetzungen für eine Reunion anregten (Nr. 45-55). Die abgedruckten Ausarbeitungen zu einer möglichen Union von Lutheranern und Reformierten bzw. Anglikanern (Nr. 56-65) sind größtenteils einige Monate älter.
Mit einigem Abstand am umfangreichsten ist freilich der Abschnitt zur Gründung der Akademie der Wissenschaften zu Berlin (Nr. 72-99, 405-575). Hier finden sich einige bereits wohlbekannte und in anderen Ausgaben verfügbare Ausarbeitungen wie die grundlegende Denkschrift vom 25./26. März 1700 (Nr. 72, 405-411), aber zum Beispiel auch mehrere Stücke zur Gestaltung der Stiftungsmedaille (Nr. 87-89, 522-529). Der Stiftungsbrief (Nr. 79, 430-437) und die "General-Instrvction" (Nr. 80, 438-495) werden parallel in der letzten von Leibniz selbst erstellten Textfassung und der des Erstdrucks wiedergegeben. Dadurch wird gut nachvollziehbar, inwieweit Leibniz' Gedanken Eingang in die von Kurfürst Friedrich III. von Brandenburg letztlich gebilligten und sanktionierten Dokumente gefunden haben. Sinnvollerweise wird am Ende des Bandes auch eine mutmaßlich von Johann von Becher stammende Denkschrift zur Akademiegründung abgedruckt (Nr. 132), die wesentlich auf der Leibniz'schen Ausarbeitung (Nr. 72) basiert. Auch einige andere Schriften Leibniz', die dem Themenfeld Bildung zuzuordnen sind (Nr. 100-108), aber nicht in direktem Zusammenhang mit der Berliner Akademie stehen, finden sich in dem Band.
Weitere Gegenstände, die berührt werden, sind, unter anderen, die Angelegenheiten des Welfenhauses (Nr. 15-18), China (Nr. 69-71) und unterschiedlichste rechtliche, staats- oder reichsrechtliche Themen. Ferner sind immerhin elf Nachträge (Nr. 121-131) zu bereits erschienenen Bänden abgedruckt - ein Zeichen für die akribischen Recherchen des Bearbeiterteams.
Zu loben ist erneut der wissenschaftliche Apparat, der einen wesentlichen Mehrwert dieser kritischen Quellenedition darstellt. Jedes einzelne Stück wird von genauen Angaben zu Überlieferung, Datierung und Kontext eingeleitet und durch einen Anmerkungsapparat, der Überlieferungsvarianten benennt, erwähnte Personen zuordnet und Sachverhalte erläutert, erschlossen. Ein Personen-, ein Schriften- und ein Sachverzeichnis (in das auch das Ortsregister integriert ist), Verzeichnisse der Bibelstellen und der Fundorte der abgedruckten Texte sowie ein Abkürzungsverzeichnis runden den Band ab und erleichtern seine Benutzung. Erneut kann man nur den imaginären Hut vor den Bearbeiterinnen und Bearbeitern des Bandes ziehen und den Wunsch äußern: weiter so!
Anmerkung:
[1] Leibniz-Edition Digital: https://rep.adw-goe.de/handle/11858/00-001S-0000-0006-AB16-C (05.12.2015).
Matthias Schnettger