Karin Becker / Vincent Moriniaux / Martine Tabeaud: L'alimentation et le temps qu'il fait. Essen und Wetter - Food and Weather, Paris: Éditions Hermann 2015, 448 S., 41 Abb., ISBN 978-2-7056-9047-2, EUR 35,00
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Der Zusammenhang von (extremer) Witterung sowie Klimaveränderungen und Ernährung wurde in den letzten beiden Jahrzehnten immer wieder diskutiert, wenn auch zumeist nur mit Bezug auf schwere Hungersnöte, wie "The Great Famine" in den 1310er-Jahren [1], die Nahrungsknappheit im Zuge des sogenannten Spörer-Minimums im 15. Jahrhundert [2] oder die Hungerkrise im Rahmen des "Jahres ohne Sommer" 1816 nach dem Ausbruch des Vulkans Tambora. [3] Dass die Verknüpfung dieser Themenfelder aber auch viel weitreichendere Ansätze zulässt, beweist der vorliegende Sammelband, der insgesamt 26 Referate einer Tagung vereinigt, die 2014 in Paris an der Sorbonne sowie am Goethe-Institut stattfand. Es würde den Rahmen dieser Besprechung sprengen, auf alle Beiträge genauer einzugehen, doch lässt sich ihnen durchwegs attestieren, dass sie mit innovativen Fragestellungen an ihre Quellen herangehen. Sie wählen kulturhistorische, ethnologische, literaturwissenschaftliche, medizinisch-diätetische und kunsthistorische Zugänge. Somit werden im Folgenden aus jedem der drei thematischen Bereiche zwei Arbeiten exemplarisch herausgegriffen.
Der erste Abschnitt "Approches physiologiques: Le corps entre l'alimentation et le temps qu'il fait" umfasst sechs Beiträge, die auf Kochbüchern ebenso aufbauen wie auf literarischen Werken von Mario Rigoni Stern, Henry Céard oder Rainer Maria Rilke. Dass der Fokus dabei nicht nur auf Europa liegt, zeigt Alice Van den Bogaert in "Catégories alimentaires et météorologie en Himachal Pradesh" (25-37). Sie stellt dar, dass am Fuße des Himalaya-Gebirges in Nordindien - ähnlich wie in den europäischen Diätetiken seit Hippokrates - die Wahl der Nahrungsmittel, der Gewürze sowie die Art des Kochens als wesentlich für die Durchblutung des Körpers bzw. allgemein der Körperzusammensetzung angesehen wurden; dazu traten noch kastenspezifische Ernährungsgewohnheiten. Bemerkenswert ist dabei, dass die Klassifizierungen eng auf Witterungskategorien wie Wärme, Kälte oder Wind Bezug nahmen. Ziel war es, ein Gleichgewicht zwischen Ernährung, Wetter und menschlichem Körper herzustellen.
Mit "Wetterfühligkeit und Diätetik. Skizzen zur literarischen Wissensgeschichte eines kulturellen Symptomleidens 1800/1900" setzt sich Patrick Ramponi auseinander (39-56). Er geht dabei der Genese der Wetterfühligkeit als moderne Systemkrankheit auf den Grund und fragt, warum die Reaktionen des menschlichen Körpers auf die ihn einwirkenden Umwelten seit 1800 zunehmend "pathologisch diskursiviert" (46) wurden. Ramponi macht plausibel, dass sich in den zahlreichen Hygieneratgebern, Diätetiken und Medizinlehrbüchern des 19. Jahrhunderts eine Krankheitslehre klimabedingter Leiden herausgebildet habe, die schließlich der Neurologe Willy Hellpach 1911 erstmals als "Wetterfühligkeit" benannt habe.
Weitere sieben Beiträge finden sich im Abschnitt "Approches météorologiques de l'alimentation: du météore à la saison" und sind zeitlich, räumlich und thematisch breit gestreut, von Küche und Wetter in den argentinischen Anden über Essgewohnheiten in Japan im Jahreskreis bis hin zu kulinarischen Weihnachtsbräuchen in Neapel. Die Althistorikerin Kim Beerden wählt für ihren Beitrag "'For Everything There Is a Season.' The Anthesteria and Intercalation: a Possible Proxy-indicator for Weather Conditions?" (127-139) einen historisch-chronologischen Ansatz: Der griechische Kalender, der dem Mondjahr folgte, wurde mit der Einschaltung eines zusätzlichen Monats dem Sonnenjahr angepasst. Ein regelmäßiger Zyklus wurde aber nie eingeführt, was offenbar an Schwankungen bei den athenischen Wetterbedingungen liegen könnte. Je nachdem, ob die Traubenernte früher oder später war, musste ein Schaltmonat eingefügt werden (oder auch nicht), damit das Fest der Anthesterien, an denen der erste Wein des Jahres verkostet wurde (im Februar / März), pünktlich gefeiert werden konnte.
Mit den Ernährungsgewohnheiten unter extremen Witterungsbedingungen setzt sich Cornelia Lüdecke in "Pinguinragout und Robbensteak - Leben und Überleben während der heroischen Ära der Antarktisforschung (1897-1916)" auseinander (169-185). Der Großteil der Lebensmittel war zwar in getrockneter Form oder in Konserven verpackt aus dem Mutterland mitgenommen worden, doch gab es schon auf der Überfahrt sowie während der Schlittenexpeditionen immer wieder nennenswerte Verluste, sodass auf "einheimische" Fleischlieferanten wie Pinguine und Robben zurückgegriffen werden musste (deren adäquate Zubereitung allerdings erst erlernt werden musste). Anhand der Tagebücher von Antarktisforschern wie Erich von Drygalski oder Ernest Shackleton arbeitet Lüdecke heraus, dass bei der Ernährung deutlich zwischen dem Leben auf der Basisstation und der Versorgung auf den Expeditionen durch das Landesinnere unterschieden werden muss.
Der letzte Abschnitt "Approches alimentaires des phénomènes météorologiques: de l'aliment au repas" widmet sich konkret den Auswirkungen auf die Art des Kochens und der Auswahl der Speisen aufgrund klimatischer Bedingungen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Frankreich, doch finden sich auch Beiträge von Sylvie Guichard-Anguis zur japanischen Küche (257-271) oder Joji Nozawa zu Essgewohnheiten in Indonesien im 17. Jahrhundert (303-314).
Vincent Moriniaux geht in "Les vents secs et la conservation des viandes" (245-255) der Frage nach, ob es möglich sei, zwischen den Wetterbedingungen und der geografischen Verbreitung verschiedener Methoden zur Haltbarmachung von Fleisch einen Bezug herzustellen. Er verbindet dabei die Trockenfleischtraditionen in unterschiedlichen Regionen mit den dort vorherrschenden trockenen warmen Föhnwinden oder kalten katabatischen Winden. Ohne weiter ins Detail gehen zu können, weist Moriniaux auf Traditionen in den Alpen (etwa in Graubünden) und in den Pyrenäen ebenso hin wie in den argentinischen Anden (Einfluss des Zonda bzw. Puelche) oder im Westen Kanadas (Chinook). Erst mit der Entwicklung industrieller Trocknungs- und Räuchertechnik habe sich diese enge Verbindung zwischen Wetter und Trockenfleisch-Spezialitäten aufgelöst.
Schließlich wirft Roswitha Neu-Kock in "Vom 'Mahl im Freien' zum 'Picknick' - Dokumente der Kunst" (367-386) einen kunsthistorischen Blick auf Darstellungen von Mahl in der freien Natur, kann aber dieses riesige Themenfeld naturgemäß nur skizzenhaft andeuten. Monatsbilder und bildlich Jahreszeitzyklen wertet sie ebenso aus wie neuzeitliche Stillleben. Ihnen ist gemein, dass darin Motive entwickelt werden, durch welche die Abhängigkeit der Nahrungsmittelproduktion von den klimatischen Bedingungen zumindest angedeutet wird. Bis zum Barock ist an den Mahlzeitenbildern in freier Natur allerdings zu erkennen, dass es den Künstlern offenbar weniger um ein Abbild der realen Verhältnisse denn um eine moralische Beurteilung der menschlichen Verhaltensweisen ging. Erst ab dem 19. Jahrhundert rückt die virtuose Abbildung des Picknicks als ungezwungenen gesellschaftlichen Ereignisses in den Vordergrund.
Zusammenfassungen aller Beiträge in französischer, deutscher und englischer Sprache runden den innovativen Sammelband ab. Viele der Beiträge haben das Potenzial, als Ausgangspunkt für weitere, vertiefende Studien zu dienen. Es bleibt zu wünschen übrig, dass sowohl dieses Buch als auch allgemein die junge, aber sehr dynamische klima- und kulturgeschichtliche Reihe "MeteoS" (immerhin schon 14 Bände seit 2012) auch im deutschsprachigen Raum rasch mehr Aufmerksamkeit erlangen.
Anmerkungen:
[1] Vgl. etwa William Chester Jordan: The Great Famine. Northern Europe in the Early Fourteenth Century, Princeton 1996.
[2] Vgl. Christian Jörg: Teure, Hunger, großes Sterben. Hungersnöte und Versorgungskrisen in den Städten des Reiches während des 15. Jahrhunderts (= Monographien zur Geschichte des Mittelalters; Bd. 55), Stuttgart 2008; Chantal Camenisch: Endlose Kälte. Witterungsverlauf und Getreidepreise in den Burgundischen Niederlanden im 15. Jahrhundert (= Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte; Bd. 5), Basel 2015.
[3] Vgl. zuletzt Daniel Krämer: "Menschen grasten nun mit dem Vieh". Die letzte grosse Hungerkrise der Schweiz 1816/17. Mit einer theoretischen und methodischen Einführung in die historische Hungerforschung (= Wirtschafts-, Sozial- und Umweltgeschichte; Bd. 4), Basel 2015.
Christian Rohr