Cornelius Torp: Gerechtigkeit im Wohlfahrtsstaat. Alter und Alterssicherung in Deutschland und Großbritannien von 1945 bis heute, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 2015, 472 S., ISBN 978-3-525-30168-5, EUR 49,99
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Längst sichern Sozialstaaten nicht mehr nur die Ränder der Gesellschaft gegen Armut und Not, sondern prägen biografische Grundmuster, soziale Beziehungen und Ungleichheitsverhältnisse der gesamten Bevölkerung. Mit der Alterssicherung analysiert die Habilitationsschrift von Cornelius Torp daher einen zentralen Stellmechanismus sozialer Ungleichheit. Blickt man auf das hierbei bewegte Finanzvolumen und die Anzahl der Personen im Schutzbereich der Rentenversicherung, wird deutlich, dass er eine zentrale, wenn nicht sogar die bedeutendste wohlfahrtsstaatliche Institution zum Gegenstand seiner Untersuchung gemacht hat.
Die Darstellung ist chronologisch angelegt. Acht parallel konstruierte Hauptkapitel untersuchen jeweils vier grundlegende Reformen der Alterssicherung in der Bundesrepublik und in Großbritannien, wobei der Autor seine Beispiele sowohl aus der wohlfahrtsstaatlichen Expansionsphase wie auch aus der Zeit des Um- und Rückbaus wählt. In diese Gliederung sind jeweils Teilkapitel zur sozialen Lage von Rentnern und Abschnitte zu Gerechtigkeitsvorstellungen und zur Wissensgeschichte der Alterssicherung integriert.
Mit dem kontrastiv angelegten deutsch-britischen Vergleich wählt Torp eine klassische Untersuchungsanordnung, die ihren Wert auch im Zeichen zunehmender intellektueller und politischer Verflechtung behält, gilt die Alterssicherung doch als politisches Handlungsfeld, auf dem der Nationalstaat auch im Zeichen von Globalisierung und europäischer Integration bis heute nur wenig von seiner Autonomie eingebüßt hat. Beide Sozialstaatsmodelle waren durch eine tiefgreifende Neuordnung der Alterssicherung nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt, die jeweils sehr unterschiedlichen Konstruktionsprinzipien folgte: gleichheitsorientierte, armutsvermeidende Mindestsicherung im britischen, differenzierende Lebensstandardsicherung im bundesdeutschen Fall ließe sich zuspitzend sagen. Torp erzählt die wechselvolle Geschichte beider Modelle in einer kraftvollen, plastischen Sprache, die nicht vor pointierten Urteilen zurückschreckt. Auch das ist ein Verdienst dieser klug komponierten Studie.
Mit seiner Geschichte des Alters und der Alterssicherung, die sich von der wohlfahrtsstaatlichen Gründungsphase der Nachkriegsjahre bis in die gegenwartsnahe Periode des Um- und Rückbaus über mehr als sechs Jahrzehnte vielfältigen Wandels der Rahmenbedingungen und permanenter Reformen erstreckt, hat sich der Autor ein anspruchsvolles Ziel gesteckt. Torp meistert diese Aufgabe, das sei vorweggenommen, rundweg überzeugend. Dazu trägt bei, dass er nicht der Versuchung erlegen ist, sich an einer doppelten "histoire totale" der Rentenversicherung abzuarbeiten, sondern klar explizierten Leitfragen folgt.
Im Zentrum seiner Studie steht eine doppelte Wechselbeziehung. Es geht ihm um die Frage, "welche Rolle die Prinzipien sozialer Gerechtigkeit bei der Konstruktion von Alterssicherungssystemen gespielt haben" und wie "wohlfahrtsstaatliche Institutionen umgekehrt die gesellschaftlich vorherrschenden Gerechtigkeitsvorstellungen und soziale Strukturen verändert haben" (10). Wie wandelten sich Gerechtigkeitssemantiken im Untersuchungszeitraum und welche Sozialgruppen wurden durch die jeweiligen wohlfahrtsstaatlichen Regime systematisch privilegiert oder benachteiligt? Mit diesen Perspektivpunkten, die eine Denkfigur von Hans Günter Hockerts aufgreifen [1], setzt Torp zwei originelle eigenständige Forschungsakzente, denn die Sozialgeschichte der sozialen Sicherung muss immer noch als unzureichend erforscht gelten, und das normative Fundament der Alterssicherung wurde bisher vor allem im Hinblick auf unterschiedliche Konzeptionen von Sicherheit untersucht.
Die politische Geschichte der Alterssicherung in Deutschland und Großbritannien ist heute ein gut vermessenes Forschungsfeld [2], so dass es kaum möglich ist, im Rahmen einer vergleichenden Arbeit auf alle Stränge der verzweigten Forschungsdiskussion differenzierend Bezug zu nehmen. Der Gewinn ist ein anderer, schließlich geht es Torp um das Verhältnis von Gerechtigkeitskulturen und sozialer Ungleichheit in der Alterssicherung. Hier leistet seine sorgfältige und methodisch versierte Interpretation der gerade im deutsch-britischen Vergleich nicht einfach zu handhabenden Sozialstatistiken einen wichtigen Beitrag zum aktuell kontrovers diskutierten Stellenwert sozialwissenschaftlicher Quellen in zeithistorischen Argumentationen. [3]
Weiterführend ist auch, wie Torp die bisher vor allem von Politikwissenschaftlern bei der Analyse gegenwartsnaher Reformprozesse gestellte Frage nach der Bedeutung von Gerechtigkeitskonzeptionen für die Akzeptanz sozialpolitischer Veränderungen in ein historisches Argument verwandelt. Dabei vermeidet Torp einen Kardinalfehler vieler wissensgeschichtlicher Arbeiten, indem er Gerechtigkeitsvorstellungen nicht als vom politischen Raum abgetrennte Diskurse behandelt, sondern ihren Wandel auf zwei sehr verschiedene nationale Expertenkulturen bezieht und sie an die Entwicklung der sozialpolitischen Institutionen zurückbindet. Ihm gelingt damit eine wichtige Erweiterung des Konzepts der Pfadabhängigkeit, das die Stabilität sozialpolitischer Institutionen bisher vor allem durch verfestigte Interessenlagen erklärt hat. So tritt im deutsch-britischen Vergleich die deutlich schwächere normative Verankerung der Alterssicherung in der politischen Kultur des Vereinigten Königreichs markant hervor; dies erklärt einiges von ihrer Instabilität und Verwundbarkeit gegenüber den Einschnitten seit der Regierung Thatcher.
Bilanzierend lässt sich festhalten, dass Torp mit seiner Frage nach dem "Wechselverhältnis von Strukturen sozialer Ungleichheit, Normen sozialer Gerechtigkeit und wohlfahrtsstaatlichen Institutionen" (9) eine exemplarische Studie gelungen ist, die uns den Wohlfahrtsstaat in seiner Bedeutung als "system of stratification" und "active force in the ordering of social relations" [4] eindrucksvoll vor Augen führt. Jedem, der den Sozialstaat für eine spröde Materie hält, sei dieses Buch empfohlen. Und jeder, der etwas über die Kultur- und Sozialbedeutung wohlfahrtsstaatlicher Institutionen erfahren möchte, wird diese glänzende Studie mit Gewinn lesen.
Anmerkungen:
[1] Mit Blick auf das Wechselverhältnis zwischen der politischen Basis sozialer Prozesse und der sozialen Basis politischer Prozesse vgl. Hans Günter Hockerts: Metamorphosen des Wohlfahrtsstaates, in: Zäsuren nach 1945: Essays zur Periodisierung der deutschen Nachkriegsgeschichte, hg. von Martin Broszat, München 1990, 35-45.
[2] Für Deutschland vgl. die einschlägigen Beiträge in: Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung u.a. (Hgg.): Geschichte der Sozialpolitik in Deutschland seit 1945, 11 Bde., Baden-Baden 2001-2008.
[3] Zuletzt Jenny Pleinen / Lutz Raphael: Zeithistoriker in den Archiven der Sozialwissenschaften. Erkenntnispotenziale und Relevanzgewinne für die Disziplin, in: Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte 62 (2014), 173-195.
[4] Gøsta Esping-Andersen: The Three Worlds of Welfare Capitalism, Cambridge 1990, 23.
Winfried Süß