Peter Herde / Benjamin Z. Kedar: Karl Bosl im "Dritten Reich", Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2015, 226 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-11-041256-7, EUR 59,95
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Diese Rezension erfordert eine Vorbemerkung. Das hier besprochene Buch ist die erweiterte Neuausgabe einer Publikation über den bayerischen Landeshistoriker Karl Bosl in der NS-Zeit, die die beiden Autoren vor fünf Jahren auf Englisch veröffentlicht haben. [1] Bosl (1908-1993) gilt bis heute als der progressivste bayerische Landeshistoriker. Er war ein liberaler Modernisierer, der sich konservativ-reaktionären Ansätzen seines Faches widersetzte, die Landesgeschichte seit den 1960er-Jahren für Themen wie die Revolution 1918/19 öffnete - hier war der Band "Bayern im Umbruch" epochemachend [2] - und durch Publikationen seiner zahlreichen Schüler einen kritischen Blick auf die bayerische Monarchie, insbesondere die meist verklärt betrachtete Prinzregentenzeit, möglich machte.
Das Buch von Kedar und Herde erregte 2011 über die Wissenschaft hinaus Aufsehen, denn es zerstörte nachgerade einen Mythos und führte unter anderem dazu, dass die Stadt Cham einen nach Bosl benannten Platz wieder umbenannte. Ehemalige Schüler Bosls waren über Kedars und Herdes Publikation verbittert. Kern der Darstellung ist die These, dass Bosl im Zuge seines Entnazifizierungsverfahrens als Lehrer in Ansbach 1945 die Hinrichtung seines Schülers Robert Limpert für sich ausgenutzt habe. Der NS-Gegner Limpert war am 18. April 1945 durch den fanatischen Wehrmachtsoffizier Meyer am Rathaus gehängt worden - nur wenige Stunden, bevor die Amerikaner in die Stadt einmarschierten. Bosl, der Limpert kannte, hielt sich bei seinem Entnazifizierungsverfahren einige Widerstandsaktionen zugute, die den Taten Limperts ähnelten, etwa das Verteilen von Flugblättern. Dass Bosl NS-Gegner oder gar Widerstandskämpfer gewesen sei, widerlegten die Autoren, die freilich auf etliche Vorarbeiten zurückgreifen konnten, damals insgesamt überzeugend. Weniger überzeugend war der stets anklägerische Tonfall der Publikation und die Behauptung, dass diese angeblichen Widerstandsakte ausschlaggebend dafür gewesen seien, dass Bosl letztlich als "entlastet" eingestuft wurde. Wäre Bosl damals mittels Lügen und absichtlichem Verschweigen nicht so gut durch die Entnazifizierung gekommen, so legten die Autoren nahe, dann hätte er nach 1945 niemals eine wissenschaftliche Karriere starten können.
Der Rezensent hat daraufhin im Auftrag des Bayerischen Philologenverbands, dessen erster Vorsitzender Bosl in der Nachkriegszeit war, Bosls Leistungen und Fehlverhalten (auch nach 1945) zusammenfassend dargestellt und Mängel in der Publikation von Herde / Kedar kritisiert - so zum Beispiel, dass sie jeglichen Vergleich von Bosls Karriere in der NS-Zeit mit der anderer Fachkollegen wie Theodor Schieder unterlassen hatten. [3] Es gibt nun zwar ein Kapitel über "Bosl im Dritten Reich", aber die Autoren paraphrasieren auch in der neuen deutschsprachigen Fassung vor allem das bisher Bekannte und schreiben die Erkenntnislücken fort. Nach allem, was bekannt ist, war Bosl ein parteikonformer Nachwuchswissenschaftler, der sich jedoch relativ wenig kompromittiert hat. Wesentliche Aspekte seiner Tätigkeit sind unbekannt. Zum Beispiel hätte man gerne den Vortrag über den "Landesausbau im baierischen Raum", den Bosl im Rahmen des "Kriegseinsatzes der deutschen Wissenschaft" auf einer Tagung im Januar 1945 in Braunau gehalten hat - doch der Text ist bis jetzt nicht gefunden worden. Es wäre redlich gewesen, wenn Kedar und Herde auch das klar benannt hätten, was wir über Bosl in der NS-Zeit bisher nicht wissen. Stattdessen überhöhen sie auf geradezu groteske Weise Erkenntnissplitter wie einen kurzen Zeitungsartikel über einen Vortrag Bosls Ende 1944 in Ansbach vor örtlichen Parteianhängern über "das Reich als politische Idee". Bosl ist für sie jemand, der "Hitler in höchsten Tönen lobte" (so der Klappentext auf der Rückseite des Buches).
Die Darstellung von Bosls Entnazifizierungsverfahren in der englischen Erstfassung enthält Versäumnisse, die auf mangelnde Quellenkenntnis der beiden Mediävisten zurückzuführen sind. Dazu muss man etwas ins Detail gehen: Der Rezensent wies seinerzeit darauf hin, dass eine Woche vor Bosls Verfahren ein an der Hinrichtung Limperts mittelbar beteiligter hoher Beamter, Friedrich Bernreuther, von derselben Spruchkammer als "Mitläufer" eingestuft worden war. Den Fall Bernreuther kannten Herde / Kedar bei der Erstfassung ihres Buches nicht. Beide Entnazifizierungsverfahren - das von Bosl und das von Bernreuther - müssen jedoch verglichen werden, da sie in einen Zusammenhang gehören. Als Resümee hielt der Rezensent damals fest, dass die Einstufung Bosls ("entlastet") als angemessen zu beurteilen ist - jedenfalls, wenn man sie mit dem Urteil im Fall Bernreuther vergleicht. Nicht verschiedene, Bosl zugeschriebene angebliche Widerstandstaten waren für seine Einstufung ausschlaggebend, sondern das zeitliche Zusammentreffen mit der Entnazifizierung Bernreuthers.
Das nunmehr zweite Bosl-Buch der Autoren ist in drei Teile gegliedert. Die Darstellung ist insgesamt ausgewogener, sie hält Bosl jetzt auch Empathie mit dem hingerichteten Schüler Limpert zugute. An den Hauptthesen jedoch halten die Autoren fest.
1. Die Sachdarstellung: Sie ist gegenüber dem englischen Original an vielen Stellen ergänzt und präzisiert, leider ohne dass die Autoren das gekennzeichnet hätten. Die Autoren schreiben lediglich, sie hätten nunmehr Dokumente eingesehen, die ihnen "beim Verfassen der englischen Ausgabe noch nicht vorlagen". Insbesondere handelt es sich um Entnazifizierungsakten aus dem Staatsarchiv Nürnberg, etwa die Akte des Wehrmachtsoffiziers Meyer. Auch das aufschlussreiche, schonungslos kritische Buch von dessen Tochter Ute Althaus hatten die Autoren bei ihrer Erstfassung übersehen. [4] Inhaltlich argumentieren sie, was Bosl betrifft, jetzt etwas sanfter. So konzedieren sie, "dass Bosl durchaus schockiert darüber war, wie sein ehemaliger Schüler ums Leben kam" (43). Außerdem erwähnen sie nun ein Memorandum vom 24. Mai 1945: Kaum einen Monat nach Limperts Tod hatte sich Bosl mit anderen gegenüber dem Oberbürgermeister dafür eingesetzt, das NS-Opfer öffentlich zu rehabilitieren. Das war direkt nach Kriegsende, als viele für die drakonische Bestrafung von sogenannter Wehrkraftzersetzung durchaus Verständnis hatten, keine Banalität. Es ist für die lückenhafte Quellen- und Literaturauswahl der Autoren bezeichnend, dass Kedar und Herde das Memorandum im ersten Buch nicht erwähnten, obwohl es schon 1989 in der Dissertation von Helmut Deffner zitiert worden war. [5] Dass Bosl noch Ende 1944 fanatischer Nationalsozialist gewesen sein soll, neun Monate später sich aber empathisch für ein NS-Opfer einsetzte, können die Autoren nicht erklären - und sie unternehmen noch nicht einmal einen Versuch dazu. Erneut vermeiden die Autoren einen Vergleich von Bosls Vita mit der anderer NS-belasteter Historiker, obwohl das naheliegend gewesen wäre. Zu Theodor Schieder etwa, der wie Bosl Karl Alexander von Müller zum Doktorvater hatte, liegt eine einschlägige Biografie vor. [6] Lediglich am Ende ihrer Zusammenfassung erwähnen sie einige, willkürlich ausgewählte andere Münchner Historiker (84ff). Die Bemerkung, "die meisten überstanden" - anders als Bosl, wäre hinzuzufügen - "die Zeit mit wenigen Schandflecken", ist dabei beschönigend und die Auswahl insgesamt nicht überzeugend.
2. Der Dokumenten-Anhang ist gegenüber der Erstfassung um einige Schriftstücke erweitert, aber auch das wird leider nicht gekennzeichnet. So findet sich nunmehr das schon erwähnte Memorandum, mit dem Bosl und andere am 24. Mai 1945 beim neuen Ansbacher Oberbürgermeister eine Ehrung Limperts forderten. Seltsam ist, dass dieses Schriftstück als Faksimile abgedruckt wird, ein derselben Akte entnommenes, direkt darauf folgendes Dokument (Herbert Frank: Leben und Kampf Robert Limperts) jedoch typografisch neu gesetzt ist. Auch ein viel kritisiertes, die Kernpunkte ihres Buches letztlich nicht erhellendes Interview, das Kedar mit Bosl 1986 führte, ist wieder abgedruckt.
3. Neu ist schließlich ein Nachwort, das sich vor allem mit der Arbeit des Rezensenten auseinandersetzt, aber mit Liebe zum Detail auch entlegene Kommentare zum englischsprachigen Buch paraphrasiert. Auffällig ist erneut der Rigorismus, mit dem die Autoren zu Werke gehen. All jenen, die ihre erste Darstellung bemängelten, werfen sie Apologetik vor (183). Geht es nicht eine Spur weniger aggressiv?
Insgesamt ergibt sich durch die neue Fassung im Vergleich zum englischsprachigen Original kein großer Erkenntnisgewinn. Es fehlen nach wie vor eine Gesamtwürdigung von Bosls Vita, die sein Werk vor und nach 1945 einordnet, und eine plausible, vergleichende Darstellung, die erklärt, wie ein in der NS-Zeit stromlinienförmig agierender Historiker sich zu einem progressiven Vordenker der bayerischen Geschichtswissenschaft wandelte.
Anmerkungen:
[1] Benjamin Z. Kedar / Peter Herde: A Bavarian Historian reinvents himself: Karl Bosl and the Third Reich, Jerusalem 2011.
[2] Karl Bosl (Hg.): Bayern im Umbruch. Die Revolution von 1918, ihre Voraussetzungen, ihr Verlauf und ihre Folgen, München / Wien 1969.
[3] Dirk Walter: Karl Bosl. Annäherung an eine Persönlichkeit. Leistungen - Fehlverhalten. Mit einem Beitrag von Willi Eisele, München 2013.
[4] Ute Althaus: "NS-Offizier war ich nicht". Die Tochter forscht nach, Gießen 2006.
[5] Helmut Deffner: Stationen der Ansbacher Geschichte seit der Reformation. Der heimatliche Nahraum im Geschichtsunterricht, Ansbach 1989.
[6] Christoph Nonn: Theodor Schieder. Ein bürgerlicher Historiker im 20. Jahrhundert, Düsseldorf 2013.
Dirk Walter