Rywka Lipszyc: Das Tagebuch der Rywka Lipszyc, Berlin: Jüdischer Verlag im Suhrkamp Verlag 2015, 238 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-633-54274-1, EUR 22,95
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Kurz nach ihrem 14. Geburtstag beginnt Rywka Lipszyc den einzigen erhaltenen Band ihres im Getto Litzmannstadt/Lodz geschriebenen Tagesbuchs. Vom Oktober 1943 bis April 1944 notiert sie ihre Gedanken, berichtet auf über 100 Seiten von ihrem Leben im Getto, nutzt diese Aufzeichnungen, um sich ihre Sorgen von der Seele zu schreiben. Zu diesem Zeitpunkt hatte das junge Mädchen, 1929 als ältestes von vier Kindern in eine orthodoxe jüdische Familie geboren, bereits ihre Eltern im Getto verloren, zwei jüngere Geschwister waren 1942 in das Vernichtungslager Kulmhof verschleppt worden. Im Sommer 1944 deportierten die Nationalsozialisten Rywka und ihre Schwester nach Auschwitz. Cipka wurde sofort ermordet, Rywkas Odyssee ging weiter. Ihre Aufzeichnungen blieben jedoch in Auschwitz-Birkenau, wo eine Ärztin der Roten Armee sie nach der Befreiung fand.
Eine Enkelin der Ärztin entdeckte das Tagebuch 1995, doch erst 2008 hatte sie am damaligen Holocaust Center of Northern California mit dessen Archivarin und Bibliothekarin Judy Janec jemanden gefunden, der den Wert der Quelle erkannte. 2014 erschien das Tagebuch in englischer Übersetzung, nun liegt auch eine deutsche Ausgabe vor.
Das Getto in Litzmannstadt, wie die Deutschen die Stadt Lodz (poln. Łódź) seit April 1940 nannten, bestand vom Frühjahr 1940 bis zum Sommer 1944. Es war nach demjenigen in Warschau das zweitgrößte Getto im deutschen Machtbereich. Zahlreiche Juden schrieben hier ihre Erfahrungen auf, wollten Leben und Sterben unter deutscher Besatzung dokumentieren. Die jüdische Verwaltung richtete sogar ein Archiv für genau diese Zwecke ein. [1]
Obwohl viele Quellen aus dem Getto Litzmannstadt bekannt sind, ist das Tagebuch von Rywka Lipszyc doch etwas Besonderes. Zum einen sind kaum Selbstzeugnisse von Frauen und Mädchen aus diesem Getto überliefert, dann ist die Perspektive eines orthodoxen jüdischen Mädchens interessant, außerdem besitzen wir nur wenige Aufzeichnungen aus diesem Zeitraum, von jugendlichen Autoren gar keine. [2]
Als Rywka Lipszyc am 3. Oktober 1943 das überlieferte Tagebuch beginnt, wohnt sie mit ihrer kleinen Schwester bei Cousinen. Immer wieder vertraut sie ihrem Tagebuch Konflikte mit den Cousinen an, sie fühlt sich missverstanden und allein. Sie fasst ihre Trauer um die Eltern und Geschwister in Worte und schreibt über den ständigen Hunger. Sie hadert mit sich und der Menschheit, ist verzweifelt. Doch sie schreibt auch darüber, wie sie lernt und arbeitet, über Kultur und Literaturzirkel und über ihre große Liebe zu einer älteren Freundin. Sie sucht Orientierung und Halt, versucht sich und das furchtbare Leben im Getto zu verstehen.
Der letzte Eintrag vom 14. April 1944 bricht mitten im Satz ab. Es ist nicht bekannt, ob Rywka danach noch an anderer Stelle weiter geschrieben hat. Wir wissen, dass das Mädchen im Sommer 1944 nach Auschwitz, von dort zusammen mit ihren drei Cousinen ins Lager Christianstadt gebracht wurde. Nach Monaten der Zwangsarbeit überlebten sie auch den Todesmarsch nach Bergen-Belsen, wo eine der Cousinen starb. Die anderen beiden Cousinen erlebten die Befreiung und gelangten nach Schweden, glaubten aber, Rywka sei bei Kriegsende in Bergen-Belsen gestorben. Recherchen in den letzten Jahren haben ergeben, dass sie zumindest noch einige Monate gelebt hat. Ihre Spur verliert sich in Niendorf in der Nähe von Lübeck. Judy Janec beschreibt am Ende der Edition ihre spannende Recherche über das Schicksal von Rywka Lipszyc.
Weitere Texte umrahmen das eindrucksvolle Tagebuch des jungen Mädchens. Neben zwei Texten von Familienmitgliedern hat Alexandra Zapruder eine hervorragende Einleitung zur Quelle verfasst, der einleitende Essay von Fred Rosenbaum ist dagegen an vielen Stellen fehlerhaft. Die wichtige Arbeit der polnischen Historikern Ewa Wiatr geht in der vorliegenden Ausgabe etwas unter bzw. ist nicht mit einem eigenen Text dokumentiert. Sie hat überhaupt erst die Identität der Tagebuch-Schreiberin ermittelt, den Text transkribiert und die informativen Anmerkungen dazu verfasst.
In ihrem letzten Eintrag freut sich Rywka Lipszyc darüber, dass es endlich Frühling wird und denkt darüber nach, wie schön die Jugend ist. Sie schreibt am 12. April 1944: "In solchen Momenten möchte man zuerst so gern leben, man ist irgendwie nicht mehr so seltsam traurig, aber dann empfindet man unser Unglück nur umso schmerzlicher, dann legt sich eine solche Niedergeschlagenheit auf die Seele und ... man muss wirklich sehr stark sein, um nicht aufzugeben. Denn man sieht die Schönheit der Welt, den Frühling und überhaupt das alles, und zugleich sieht man, wie uns im Getto fast alles genommen wird, selbst die einfachsten Dinge, uns wird alles genommen, wir haben nicht die kleinste Freude, denn wir sind leider Maschinen mit gut entwickelten tierischen Instinkten, die sich zeigen, wohin man auch schaut (am meisten beim Essen), und das alles lässt uns immer mehr abstumpfen, und wenn man uns betrachtet, dann erkennt man sofort, wie viel es uns kostet (sofern wir es wirklich wollen), uns neben dem Alltag ein Leben zu schaffen, ein anderes, besseres, in dem ... aber was soll ich darüber schreiben? Ich will es, ich will es so sehr. Und gerade jetzt, wo ich denke, dass uns alles genommen wurde, dass wir Sklaven sind, versuche ich mit meiner Willenskraft diesen Gedanken zu vertreiben und mir nicht diesen kurzen Moment der Lebensfreude verderben zu lassen. Wie schwer das aber ist! Gott, wie lange noch? Ich glaube, erst wenn wir befreit werden, wird es für uns wirklich Frühling. Ach, ich sehne mich so sehr nach diesem großen und lieben Frühling..." (188f.).
Vermutlich hat Rywka Lipszyc die Befreiung nur um ein paar Monate überlebt. Zumindest Teile ihrer Aufzeichnungen haben überdauert und bringen ihren Namen wieder in das Gedächtnis zurück.
Anmerkungen:
[1] Sascha Feuchert / Erwin Leibfried / Jörg Riecke (Hgg.): Die Chronik des Gettos Lodz/Litzmannstadt, 5 Bde, Göttingen 2007. Siehe allgemein zum Getto: Andrea Löw: Juden im Getto Litzmannstadt. Lebensbedingungen, Selbstwahrnehmung, Verhalten, Göttingen 2006.
[2] Siehe hierzu die vorzügliche Einleitung von Alexandra Zapruder im vorliegenden Tagebuch. Siehe außerdem Andrea Löw: Tagebücher aus dem Ghetto Litzmannstadt: Autoren, Themen, Funktionen, in: "...Zeugnis ablegen bis zum letzten". Tagebücher und persönliche Zeugnisse aus der Zeit des Nationalsozialismus und des Holocaust, hgg. von Frank Bajohr / Sybille Steinbacher, Göttingen 2015, 142-163.
Andrea Löw