Eva-Maria Dickhaut (Hg.): Leichenpredigten als Medien der Erinnerungskultur im europäischen Kontext (= Leichenpredigten als Quelle historischer Wissenschaften; Bd. 5), Stuttgart: Franz Steiner Verlag 2015, XVI + 412 S., 10 Farbabb., ISBN 978-3-515-11046-4, EUR 48,00
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Im Jahr 1976 urteilte der Sprachwissenschaftler Gordon W. Marigold, dass deutschsprachige Leichenpredigten als "Stiefkinder der Forschung" [1] bisher kaum von der Geschichtswissenschaft berücksichtigt worden waren. Seither widmen sich jedoch die Arbeiten und Studien der im gleichen Jahr gegründeten Marburger Forschungsstelle für Personalschriften intensiv diesem Desiderat; die bis heute publizierten Bände der Reihe "Leichenpredigten als Quelle historischer Wissenschaften" [2] rückten Leichenpredigten und Trauerschriften in den Fokus geschichtswissenschaftlicher Forschung und stellen seither den maßgeblichen Referenzrahmen für die Beschäftigung mit der deutschsprachigen Funeralliteratur dar. [3] Die angezeigte Publikation ist der neueste Band der besagten Reihe und zugleich das Substrat des 5. Marburger Personalschriften-Symposions, welches vom 1. bis 3. November 2012 stattfand.
Einer knappen Einleitung von Eva-Maria Dickhaut, in der die Autorin die in den letzten Jahren intensivierte Gedächtnis- und Erinnerungsforschung mit der Leichenpredigtforschung verknüpft - ein Nexus, den trotz des Titels leider nicht alle Beiträge gleichermaßen herstellen -, folgen auf fast 400 Seiten insgesamt achtzehn Aufsätze. Besonders positiv sticht hierbei der unterschiedliche Zugang zu der im Zentrum stehenden Quellengattung hervor. Während sich beispielsweise Ulrich Niggemann (27-52) den Funeralschriften für Wilhelm III. von England († 1702) aus einer dezidiert kulturwissenschaftlichen Perspektive nähert und den Fokus seiner Analyse auf "diskursive [...] Mechanismen und narrative [...] Prinzipien" (27) der Predigten als normvermittelnde Medien legt, hinterfragt Martina Schattkowsky (53-70) anhand einer Abgleichung des Leichsermons auf den kursächsischen Adligen Christoph von Löß († 1620) mit archivalischen Quellen das quellenkritische Verdikt der Leichenpredigten als Lügenpredigen und versucht hierdurch "eine Lanze für diese Quellengattung" (69) zu brechen. Sozial-, Gender- und mediengeschichtliche Studien zu dem Forschungsthema runden den Sammelband ab und zeugen von der beeindruckenden Multiperspektivität und umfassenden thematischen Breite.
Als besonders instruktiv erweist sich der Beitrag von Dominik Motz (71-92), welcher sich - auf dem Thema seiner an der Universität Kassel entstehenden Dissertation aufbauend - mit Funeralschriften auf die Mitglieder des Hauses Waldeck und Pyrmont beschäftigt und den medialen Charakter der Druckwerke thematisiert. Überzeugend kann der Autor darlegen, dass die Predigtdrucke ausschließlich von der Dynastie selbst in Auftrag gegeben und "aufgrund eingeschränkter Ressourcen" (86) intentional für dynastische Politik eingesetzt wurden. Durch eine Kontextualisierung der Predigten in deren Entstehungshintergrund kann Motz herausstellen, dass mit dem Medium des Funeraldrucks auf jeweils aktuelle Problemlagen und spezifische Konfliktsituationen reagiert werden konnte. So betonte beispielsweise der Hofprediger Justus Hersfeld in seinem Leichsermon auf Graf Christian von Waldeck-Wildungen († 1673) vor dem Hintergrund einer drohenden Mediatisierung der Grafschaft dezidiert die Nähe zum Haus Habsburg und die Treue gegenüber dem Kaiser. Die von Motz beobachtete Veränderung des Druckformates mit der Erhebung des Hauses in den Reichsfürstenstand durch Kaiser Leopold I. im Jahr 1682 unterstreicht zudem die Funktion der gedruckten Funeralschriften als zentrales dynastisches Repräsentationsmedium: Wurden die Predigten zunächst im Oktav gedruckt, setzte mit der genannten Erhebung die Drucklegung im Quartformat ein.
Bei der Betrachtung gedruckter Predigtliteratur rückt oftmals die Frage nach der Distribution und Rezeption in das Zentrum des Interesses. Eben diese ist in vielen Fällen jedoch schlecht bis teilweise gar nicht zu beantworten und umso verdienstvoller ist es, dass sich Jill Bepler in ihrem Beitrag diesem Problem nähert (93-126). Anhand von archivalisch überlieferten Bestandsinventaren von anhaltinischen, hessischen und württembergischen Fürstinnenbibliotheken gelingt es der Autorin aufzuzeigen, dass die in den Bibliotheken vorhandenen Leichenpredigten oftmals aus dem näheren dynastischen Umfeld stammten und durch Schenkung oder Vererbung in die jeweiligen Bestände gelangt waren. Die Funeraldrucke seien somit Teil eines "geschlossenen höfischen Kommunikationskreises" (102) gewesen. Zudem vermag es Bepler herauszustellen, dass der ideelle und dynastische Wert der Druckwerke größer war als ihr finanzieller: Nach der Schätzung des Hofpredigers David Pforr besaß die 733 Bücher umfassende Sammlung der Landgräfin Sophia von Hessen-Kassel einen Gesamtwert von 397 Reichstalern, mit wenigen Ausnahmen wurden die Funeraldrucke dieses Bestandes jedoch mit weit unter einem Taler taxiert.
Inwiefern das Thema Reisen in Leichenpredigten verarbeitet wurde, fragen Eva Bender (217-236) und Detlef Haberland (237-260) in ihren Beiträgen. Während Bender sich mit den Prinzenreisen thüringischer Adliger auseinandersetzt und zu dem Ergebnis kommt, dass diese Reisen ein integraler Bestandteil der Funeralwerke waren - eine nicht absolvierte Reise entsprechend gerechtfertigt werden musste -, kommt Haberland demgegenüber nach der Untersuchung der Trauerpublizistik auf Forschungsreisende, beispielsweise Johann Albrecht von Mandelslo († 1644) oder Alexander von Humboldt († 1859), zu dem Ergebnis, dass diese Art des Reisen selbst keinen exponierten Platz in den Ausführungen des Predigers einnahm, oftmals das Leben Forschungsreisender kaum in Leichenpredigten verarbeitet wurde.
Abgerundet wird der Sammelband durch die Beiträge von Robin Pack (281-294), Matthias Schulz (295-302), Jörg Witzel (303-314) und Maria Federbusch (315-328), die sich als Werkstattberichte im Gegensatz zu den anderen Aufsätzen, mit der Erschließung, Edition und Digitalisierung der deutschsprachigen Funeralliteratur in der Frühen Neuzeit beschäftigen und somit einen Einblick in die künftigen Möglichkeiten der Leichenpredigtforschung gewähren.
Obgleich man - ausgehend vom Titel - eine etwas stärkere Fokussierung auf die angekündigte europäische Perspektive hätte erwarten können, nehmen eine solche nur vier Beiträge dezidiert ein. Zum einen richten Kalina Mróz-Jabłecka (173-190) und Gerhard Schiller (359-380) mit Breslau und Schlesien den Blick auf die östliche Peripherie des Reiches. Einen in dieser Hinsicht besonderen Mehrwert erfährt der Band durch die Studien von Dana Janetta Dogaru (329-358) und Ulrich Niggemann (27-52), die nach Siebenbürgen bzw. England blicken und somit die Möglichkeit einer vergleichenden europäischen Leichenpredigtforschung aufzeigen. Auch wenn eine multikonfessionelle Sicht auf das Thema bereichernd gewesen wäre - eine Auseinandersetzung mit Predigten katholischer Provenienz findet nicht statt -, stellt der vorliegende Sammelband dennoch beeindruckend unter Beweis, welch vielfältige Fragestellungen an die Quellengattung "Leichenpredigten" gestellt werden können und wie sehr sich diese für multi- und interdisziplinäre Arbeiten eignet. Zweifelsohne gibt er der Leichenpredigtforschung wichtige Impulse und fügt sich zu Recht in die für die Erforschung von Personalschriften zentrale Schriftenreihe der Marburger Forschungsstelle ein.
Anmerkungen:
[1] Gordon W. Marigold: Leichenpredigten als biographische Quellen: War Friedrich Karl von Schönborn ein religiöser Schriftsteller?, in: Würzburger Diözesan Geschichtsblätter 37-38 (1975-1976), 269-280, hier: 269.
[2] Rudolf Lenz (Hg.): Leichenpredigten als Quelle historischer Wissenschaften, Band 1, Köln / Wien 1975; Band 2, Köln / Wien 1979; Band 3, Köln / Wien 1984; Band 4, Stuttgart 2004.
[3] Überdies hinaus wurden zentrale Ergebnisse der Marburger Forschungen in der Reihe "Marburger Personalschriften-Forschungen" publiziert; bis dato wurden insgesamt 56 Bände dieser Schriftenreihe veröffentlicht.
Jan Turinski