Rolf Steininger: Deutschland und der Nahe Osten. Von Kaiser Wilhelms Orientreise 1898 bis zur Gegenwart, Reinbek: Lau-Verlag 2015, 264 S., 44 s/w-Abb., ISBN 978-3-95768-161-4, EUR 22,00
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Im Laufe der letzten knapp 150 Jahre, in denen überhaupt erst eine erkennbare "deutsche" Nahostpolitik betrieben wird, änderte sich die Definition des politischen Bezugsgegenstands Nahost stetig. Im Kaiserreich waren mit dem Nahen Osten vor allem das Osmanische Reich und Ägypten gemeint, wofür die Gründung der Deutschen Orientgesellschaft und der auf deutsche Initiative hin betriebene Bau der Bagdadbahn Beispiele darstellen. Die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs aus der Konkursmasse des Osmanischen Reichs neu entstandenen Staaten und Machtbereiche verlangten dann eine Neuorientierung der bisherigen deutschen Außenpolitik im Hinblick auf diese Weltregion.
Rolf Steininger, emeritierter Professor der Zeitgeschichte der Universität Innsbruck, definiert in seiner bündigen Gesamtdarstellung den Nahen Osten weniger als geographisch klar umrissenes Gebiet. Vielmehr thematisiert er die Weltregion, in welcher der Nahostkonflikt die wesentliche Rolle spielt bzw. die Spannungen zwischen Israel und seinen arabischen Nachbarstaaten den politisch konstituierenden Faktor darstellen. In seinem Werk vermittelt der Autor in sieben Großkapiteln einen Überblick über die Positionierung Deutschlands in diesem Spannungsfeld. Dabei zeigt er auf, wie wechselhaft sich die deutsche Politik - geleitet von unterschiedlichen Interessen - im Laufe der Zeit gestaltete.
Am Beginn von Steiningers Untersuchung steht der Einsatz des Hohenzollernkaisers für die zionistische Bewegung Theodor Herzls während seiner Orientreise 1898 beim Osmanischen Sultan Abdülhamid II. Herzls Vorstellung war ein jüdischer Staat mit autonomem Status von Gaza bis zum Euphrat, der unter deutschem Protektorat stehen sollte. Der Sultan freilich war von dieser Idee wenig begeistert. So geriet die deutsche Nahostpolitik in ihr erstes Spannungsfeld zwischen arabischen und jüdischen Interessen. Zwar setzte sich der Kaiser persönlich für die bereits bestehenden und in der Folgezeit entstehenden jüdischen Siedlungen in Palästina wohlwollend ein, gleichzeitig waren aber der Bau der Bagdadbahn, engere wirtschaftliche Beziehungen und eine engere militärische Partnerschaft mit dem Osmanischen Reich das handfeste politische Ergebnis.
Im zweiten Kapitel thematisiert Steininger die außenpolitische Zäsur des Ersten Weltkriegs und ihre Bedeutung für die Gestaltung der deutschen Nahostpolitik. Viele Deutsche, darunter Persönlichkeiten wie Max von Oppenheim, Colmar Freiherr von der Goltz oder Wilhelm Waßmuß, eine bunte Aufreihung von Abenteurern, Hobbyarchäologen oder Militärs, betätigten sich im Sinne der kaiserlichen Regierung im Nahen Osten für eine islamische Revolution gegen den Kriegsgegner England. Doch dieses politische Vorhaben misslang. Weil das Osmanische Reich für Wilhelm II. der wichtigste Bündnispartner in der Region war, sah man in diesem Zusammenhang auch geflissentlich über den Völkermord an den Armeniern hinweg, über den Reichkanzler Bethman-Hollweg Stillschweigen gegenüber der Öffentlichkeit anordnete.
In den Kapiteln drei und vier geht der Autor auf lediglich 30 Seiten nur kurz auf die Konzeption der Nahostpolitik bis 1945 ein. Die Kürze der Ausführungen ist umso bedauerlicher, da in diesem Zeitraum die arabische Seite, neben den anderen Achsenmächten, zum unverzichtbaren außenpolitischen Partner im Nahen Osten wurde. Bereits 2006 veröffentlichten Klaus-Michael Mallmann und Martin Cüppers hierzu eine ausführliche und aufschlussreiche Studie über das Verhältnis zwischen den Nationalsozialisten und dem arabischen Nationalismus sowie deren Kollaboration im Zweiten Weltkrieg. [1] Steiniger legt in diesem Teil jedoch auch offen, wie ambivalent der Umgang der Nationalsozialisten mit ihren Bündnispartnern war: Einerseits bewunderten die Araber die NS-Politik gegenüber den Juden, wovon begeisterte "Heil Hitler"-Rufe und die aufgeregte Begeisterung für den deutschen Generalkonsul Walter Döhle auf einer Dienstfahrt durch die palästinensischen Gebiete 1936 zeugten; andererseits aber betrachtete man die Araber auch als "primitives Volk", das nicht auf den "naheliegenden Gedanken" kam "Deutschland für die verstärkte jüdische Einwanderung nach Palästina [...] verantwortlich zu machen" (54). Seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten war vor allem der Großmufti von Jerusalem, Mohammed Amin al-Husseini, zu einem der wichtigsten Verbündeten der Deutschen im Nahen Osten geworden. Als glühender Antisemit betrieb er NS-Propaganda im arabischsprachigen Raum und beteiligte sich an einem deutschfreundlichen Militärputsch im Irak gegen die britische Mandatsmacht im April 1941, der jedoch scheiterte. Nach dem Scheitern des Putsches floh Husseini noch im selben Jahr ins Deutsche Reich, wo er von 1941 bis 1945 unter der persönlichen Protektion Hitlers und großzügigen finanziellen Zuwendungen lebte.
Nach dem Krieg war es vor allem Konrad Adenauer, der die Beziehungen zu Israel mit dem Wiedergutmachungsabkommen aus dem Jahr 1952 auf ein neues Fundament stellte. Steiniger legt in seinem fünften Kapitel weiter dar, dass ab 1957 auch Waffenlieferungen an Israel zum israelpolitischen Konzept der Regierung Adenauer gehörten, was Mitte der 1960er Jahre jedoch zum Abbruch diplomatischer Beziehungen durch eine Reihe von arabischen Staaten mit der Bundesrepublik führte. In diesem Zusammenhang wurde auch die DDR zum ersten Mal zum indirekten Gegenstand der bundesdeutschen Nahostpolitik, da einige der arabischen Staaten mit der diplomatischen Anerkennung der DDR drohten.
In seinem letzten Großkapitel fasst Steiniger die bundesrepublikanische Nahostpolitik von 1967 bis 1990 nur grob zusammen. Unter Brandts Kanzlerschaft (1969-1974) veränderte sich die Lage grundlegend, da durch die Aufgabe der Hallstein-Doktrin die politische Erpressbarkeit Bonns ein Ende gefunden hatte. Durch den Oktoberkrieg 1973 (Jom-Kippur) geriet die Bundesregierung schließlich unter Druck. Durch Waffenlieferungen der USA an Israel, die auch über westdeutsches Gebiet ausgeflogen wurden, und die europäische Unterstützung der Israelis, wurde erstmals die vielzitierte "Ölwaffe" eingesetzt. In dieser Zeit wurden die USA zum neuen Machtfaktor im Nahen Osten, an dem sich auch die Bundesrepublik zu orientieren hatte. Bonn unternahm indes dennoch den Versuch, gemeinsam mit den anderen europäischen Regierungen ihre Nahostpolitik vor dem Hintergrund der Energiekrise 1973/1974 verstärkt in einen europäischen Rahmen einzubinden. Die Einbindung der verschiedenen nationalen Außenpolitiken in den europäischen Rahmen scheiterte jedoch langfristig. Die Bundesrepublik bemühte sich dabei stets um "absolute Ausgewogenheit" (193) in der Gestaltung der Beziehungen zwischen Israel und den arabischen Staaten in der Region. Dabei war die Bundesregierung in der Gestaltung ihrer konkreten Politik gegenüber dem Nahen Osten aber fortwährend von der heimischen Energiekrise und der Erdölproblematik geleitet. Um den Friedensprozess im Nahen Osten voranzutreiben und dadurch die eigene Versorgung mit arabischem Erdöl zu sichern, blieb die Palästinenserfrage in den Augen der Bundesrepublik, neben der Frage nach dem Umgang mit der PLO, das größte zu lösende Problem. Auch die israelische Siedlungspolitik wurde zunehmend wichtiger für die konzeptionelle Ausrichtung der Nahostpolitik. Vor dem Hintergrund der wohlwollenden Haltung der Bundesrepublik gegenüber saudischen Rüstungsexportwünschen und der offenen Kritik Helmut Schmidts an der israelischen Siedlungspolitik gerieten die deutsch-israelischen Beziehungen, vor allem durch Menachem Begin, der Schmidt wiederholt eine indirekte Beteiligung an NS-Verbrechen vorwarf, auf einen vorläufigen Tiefpunkt. Unter der Regierung Kohl, die sehr um Ausgleich zwischen Israel und Saudi-Arabien bemüht war, besonders in der heiklen Rüstungsexportfrage, kam es zu einer Entspannung der Beziehungen. Dennoch wurde die Wiedervereinigung Deutschlands - besonders in Israel - äußerst kritisch betrachtet.
Auf den letzten zehn Seiten widmet sich Steiniger in einem letzten Kapitel der Nahostpolitik der wiedervereinigten Bundesrepublik. Dabei zeigt er, wie sich beim Ausbruch des Golfkrieges 1990 die Bundesrepublik auf Drängen der USA mit rund 3,3 Mrd. DM finanziell an der Unterstützung des Unternehmens Desert Storm beteiligte. Eine erneute Verschlechterung der Beziehungen zu Israel brachte schließlich das Bekanntwerden der Unterstützung des Irak durch die Bundesrepublik während des Golfkriegs durch die technische Optimierung der Reichweite irakischer Scud-Raketen. Zum Ausgleich lieferte die Bundesregierung an Israel Flugabwehrraketen und unterstützte so, wenn auch nicht mit militärischer Einsatzstärke so doch finanziell, den Golfkrieg mit immerhin einem Drittel ihres Verteidigungsetats (206). In der Folge wurden geheime Waffenlieferungen aus Altbeständen der NVA an Israel vereinbart und durchgeführt.
Im Laufe der 1990er Jahre lebte schließlich der Versuch wieder auf, eine gemeinsame europäische Nahostpolitik zu schaffen. Jedoch konnte sich auch dieses Mal eine angestrebte EU-Nahostpolitik nicht von ihren nationalen Prägungen emanzipieren und auch die USA blieben nach wie vor die entscheidende Leitfigur der bundesdeutschen wie auch der europäischen Nahostpolitik. Unter Gerhard Schröder wurde ein erneuter Einsatz am Golf zum (Wahlkampf-)Thema bundesdeutscher Nahostpolitik. Mit der Weigerung einer Truppenentsendung in den Irakkrieg 2003 durch die rot-grüne Bundesregierung erreicht Steininger das Ende seiner quellenreichen Ausführungen, die angereichert mit Fotografien und vielen direkten Zitaten trotz ihrer Knappheit eine lesenswerte Überblicksdarstellung sind. Die Kürze der Darstellung auf etwas über 200 Seiten wird aber dem Gegenstand von beinahe 120 Jahren deutscher Politikgeschichte im Nahen Osten in seiner ganzen Tiefe selbstverständlich nicht voll gerecht.
Anmerkungen:
[1] Klaus-Michael Mallmann / Martin Cüppers: Halbmond und Hakenkreuz. Das Dritte Reich, die Araber und Palästina, Darmstadt 2006.
[2] Vgl hierzu auch "Der Apparat macht, was er will", in: Der Spiegel Nr. 45 vom 4.11.1991.
Bettina Sophie Weißgerber