Peter M. Quadflieg: Gerhard Graf von Schwerin (1899-1980). Wehrmachtgeneral, Kanzlerberater, Lobbyist, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2015, 498 S., ISBN 978-3-506-78229-8, EUR 58,00
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Graf Gerhard von Schwerin, ein hoch dekorierter General des Zweiten Weltkriegs, ist weithin vergessen. Dabei war er ein Militär, dem auch politisches Denken abgefordert wurde, vor allem 1939 als Generalstabsoffizier im Oberkommando des Heeres und 1950 als Sicherheitsberater von Bundeskanzler Konrad Adenauer. Der Historiker Peter Maria Quadflieg hat nun eine Biographie des Grafen von Schwerin veröffentlicht - ein Projekt, das er mit der herausgehobenen Rolle des Generals begründet und in die Reihe der Studien über die Kontinuität deutscher Funktionseliten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stellt.
Quadfliegs Arbeit beeindruckt durch ihre Materialfülle; allein das Literaturverzeichnis enthält mehr als 800 Titel. Auf dieser Basis beschreibt der Autor detailliert den Werdegang des Grafen: 1899 geboren, aus altem preußischem Adel stammend, mit starkem militärischen Hintergrund. Er trat mit 13 Jahren in die Kadettenanstalt Berlin-Lichterfelde ein, kam bereits 1915 als Fähnrich zur kämpfenden Truppe und erlebte das Ende des Ersten Weltkriegs als 19-jähriger Oberleutnant. Nach zwei Jahren als Freikorpskämpfer ließ er sich zum Kaufmann ausbilden, bevor er 1923 in die Reichswehr eintrat. Neben dem beruflich-militärischen Werdegang schildert Quadflieg auch den privaten Lebensweg seines Protagonisten, wobei seine zweite Ehe, die ihn mit der Familie Reemtsma verband, von besonderer Bedeutung ist. Schwerins zweite Gattin war vermögend, und so konnte das Ehepaar in der Weltwirtschaftskrise eine eineinhalbjährige Reise in die USA unternehmen - ein Glücksfall für den damaligen Oberleutnant. Über seine Frau bekam Graf von Schwerin auch Kontakt zur bürgerlichen Opposition gegen das NS-Regime, deren Zielen er wohlwollendes Interesse entgegenbrachte. Seine Sympathien gehörten aber eindeutig dem Soldatenberuf, wie der Autor unterstreicht.
Am 1. Oktober 1938 wurde Schwerin in den Generalstab des Heeres zur Abteilung Fremde Heere versetzt, um dort die Leitung der Gruppe Amerika/England zu übernehmen. In dieser Stellung, die er knapp ein Jahr bekleidete, reiste Schwerin im Sommer 1939 nach Großbritannien. Quadflieg widmet dieser Mission zwei Kapitel und stellt sie fast ausschließlich unter die Vorzeichen des militärischen Widerstands gegen das Regime Hitlers. Über den militärpolitischen Kontext der Reise und über die Beziehungen Schwerins zum Londoner Militärattaché Oberstleutnant Anton von Bechtolsheim erfährt man nichts. Quadflieg hat anhand britischer Quellen die von Schwerin geführten Gespräche sehr genau nachgezeichnet, und er zeigt deutlich, welche Schwierigkeiten die britischen Gesprächspartner hatten, die Aussagen des Grafen zu verstehen. Als strange affair bezeichnete Frank K. Roberts vom britischen Außenministerium diese Gespräche. Möglicherweise - Quadflieg thematisiert die Frage nicht - lag diese Verwirrung an den konkurrierenden Aufträgen aus den Kreisen des Widerstands und der Abteilung Fremde Heere. Nach seiner Rückkehr aus Großbritannien wurde Schwerin abrupt zur Truppe versetzt. Über die Gründe kann Quadflieg nur spekulieren, so dass die Behauptung, der Graf habe "für Analysen mit Papier und Bleistift im OKH wenig Talent gezeigt", reichlich unbegründet im Raum steht (299).
Einen Schwerpunkt der Arbeit bildet die Darstellung der Führungskompetenz Schwerins als Kommandeur von Truppenverbänden im Zweiten Weltkrieg. Hier erfährt man, wie der General seine Truppe zusammengehalten und motiviert hat und Auseinandersetzungen mit Vorgesetzten nicht auswich, die auch Ermittlungen des Reichskriegsgerichts zur Folge hatten. Quadfliegs Aussage, "dass sich die Konfliktbereitschaft des Grafen von Schwerin auf die taktische Führung des Krieges an der Ostfront beschränkt hat" (75), erscheint dabei als nicht ausreichend begründet. Ausführlich schildert der Autor den Einsatz der 116. Panzerdivision unter Generalleutnant Graf von Schwerins Führung an der Invasionsfront in Frankreich 1944. Das geschieht in Verbindung mit Spekulationen über etwaige Pläne Erwin Rommels zum Sturz des Hitler-Regimes, ohne dass der Leser dabei viel Neues erfährt. In diesem Zusammenhang geht Quadflieg ausführlich auf die heftigen Nachhutgefechte ein, die sich die damaligen deutschen Protagonisten an der Invasionsfront noch bis in die 1960er Jahre lieferten. Wer verfolgte seinerzeit die "richtige" Strategie, wer zählte zu den "Versagern"? Mögen seine Ausführungen zur Position Schwerins überzeugen, so wird er seinem zeitweiligen Vorgesetzten, General Freiherr Geyr von Schweppenburg, nicht gerecht.
Im Herbst 1944 verteidigte die 116. Panzerdivision Aachen gegen amerikanische Angriffe. Quadflieg kann zeigen, dass an der von Schwerin selbst genährten Legende, er habe die Stadt vor der Zerstörung bewahren wollen, nicht viel dran ist, obwohl sie sich jahrzehntelang halten konnte. Doch es waren vermutlich auch diese Legende und das Wohlwollen der Vertreter der alliierten Hohen Kommission, die Schwerin nach der Gründung der Bundesrepublik eine neue Chance eröffneten: Im Mai 1950 avancierte er zum Sicherheitsberater Adenauers - ein Amt, das er freilich bereits im Oktober desselben Jahres wieder verlor. Quadflieg behandelt diese Monate ausführlich und wirft damit neues Licht auf die Anfänge der Wiederbewaffnung. Die Ausführungen des Autors über sachliche Auseinandersetzungen und persönliche Intrigen zwischen rivalisierenden Zirkeln von Politikern und (ehemaligen) Militärs sind spannend zu lesen, allerdings hätte eine bessere Kontextualisierung zuweilen gut getan und Schwerins Handeln verständlicher gemacht. Das herausragende Ereignis dieser Monate war die Himmeroder Tagung im Oktober 1950, die Graf von Schwerin auf den Weg brachte und die Quadflieg eingehend beschreibt. Das Ergebnis, die Himmeroder Denkschrift, war ein Forderungskatalog für westdeutsche Streitkräfte im europäisch-atlantischen Rahmen - etwas völlig Neues in der deutschen Militärgeschichte.
Die Entlassung des Grafen durch den Bundeskanzler ging auf Aussagen Schwerins vor der Presse zur Notwendigkeit der Wehrpflicht zurück. Quadflieg widmet diesem Ereignis ein eigenes Kapitel und weist im wesentlichen Schwerin die Schuld zu, den er als unfähig zu Kompromissen beschreibt. Ob der Autor damit richtig liegt, ist freilich zweifelhaft. Man könnte auch Adenauer verantwortlich machen, der mit verdeckten Karten spielte und Schwerin wichtige Informationen ebenso sehr vorenthielt wie den direkten Kontakt.
Aufschlussreich ist die Schilderung der Bewerbung Schwerins bei der Bundeswehr. Quadflieg gibt im Detail das Prüfungsverfahren im Personalgutachterausschuss wieder und hebt hervor, wie umstritten der Graf war. Es ist interessant zu verfolgen, wie es seinen Gegnern gelang, eine positive Empfehlung im Plenum des Ausschusses zu verhindern. Ein kurzes Schlaglicht auf die ebenfalls abgelehnte Bewerbung von General Rudolf-Christoph von Gersdorff - aktives Mitglied des militärischen Widerstands - wäre hier hilfreich gewesen, um zu zeigen, dass Kontakte zum Widerstand gegen Hitler einer Laufbahn in der Bundeswehr nicht unbedingt förderlich waren. Nachdem seine militärische Karriere endgültig zu Ende war, engagierte sich Schwerin als Lobbyist für Unternehmen der Rüstungsindustrie, als Sprecher seines Veteranenverbands "Windhund" und als Anhänger der FDP. Dabei arbeitet Quadflieg heraus, wie Schwerin den Export von Rüstungsmaterial in den Nahen und Mittleren Osten vorantreiben und dabei auch geltende Gesetze umgehen wollte.
Graf von Schwerin war ein Militär aus Überzeugung und ein Technokrat, der seinen Widerspruchsgeist mit "Widerstand" gleichsetzte. An dieser Stelle sei die Frage erlaubt, ob Quadflieg nicht auch ohne theoretische Modelle wie Black Box oder "Referenzrahmen" zu dieser Einsicht gekommen wäre. Das Modell Black Box kommt aus der nachrichtentechnischen Systemtheorie, wobei es darum geht, Vorgänge in einem abgeschlossenen System von außen durch definierte Inputs und die Beobachtung der Outputs zu ergründen. Menschliches Verhalten lässt sich damit jedoch nur schwer erklären, haben Gefühle wie Hass, Liebe oder Mitgefühl im Black Box-Modell doch keinen Platz.
Ein sorgfältigeres Lektorat zur Vermeidung von Fehlern und Redundanzen hätte dem Buch gut getan, ebenso hätten mehr Informationen zu den wichtigsten Protagonisten im Umfeld Schwerins dazu beigetragen, die Netzwerke verständlicher zu machen, in die die Biographie des Grafen eingewoben war.
Reinfried Brunsch