Alexander Karrasch: Die "Nationale Bautradition" denken. Architekturideologie und Sozialistischer Realismus in der DDR der Fünfziger Jahre (= ZOOM. Perspektiven der Moderne; Bd. 2), Berlin: Gebr. Mann Verlag 2015, 223 S., 30 s/w-Abb., ISBN 978-3-7861-2718-5, EUR 59,00
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Die ornamentierte Architektur des Traditionalismus in der frühen DDR findet inzwischen wieder Interesse, beim Publikum wie bei den Fachleuten. Ergötzen sich Alltags-Betrachter am reichen Fassadenrelief, an den reizvollen Details, an der Pracht des Ganzen, sind Wissenschaftler von diesem Historismus eher als historisches Phänomen angezogen: Eindeutig politisch induziert, bildet er das Gegenbeispiel zu jeder "autonom" gedachten Stil- oder gar Geistesgeschichte. Sein Formideal, das einer hierarchisch gegliederten Ordnung, wurde der als Formalismus bezeichneten Moderne explizit gegenübergestellt.
Es gereicht dem Historiker Alexander Karrasch zur Ehre, dass er in seinem Buch diesen Gegensatz hervorhebt, ihn nicht durch das subjektive Konstrukt einer "anderen" - oder gar "antimodernen" Moderne verwischt. Sein Ziel ist, die Binnenlogik des architekturpolitischen Diskurses herauszuarbeiten, die inneren ideologischen Zusammenhänge klarzustellen, die zur Forderung nach einer Baukunst mit sozialistischem Inhalt in nationalen Formen führten.
Karrasch konzentriert sich dabei auf die Schriftquellen. Sie werden nicht nach der Reihenfolge ihrer Entstehung, ihres Auftretens eingeordnet, sondern nach ihrer Funktion als "Argumente" innerhalb eines geschlossenen Denksystems. So vermag Karrasch zu zeigen, wie aus einzelnen Forderungen die Kunstideologie des "sozialistischen Realismus" entwickelt und diese auf das Bauen übertragen wurde, woraus sich wiederum konkrete Anforderungen an die Gestaltung einer "neuen deutschen Architektur" ableiten ließen.
Das Buch ist ganz auf den Architekturdiskurs in der frühen DDR fokussiert. Seine Entstehung in der Sowjetunion, 1932 bis 1934, wird deshalb nur kurz abgehandelt (27-36). Dabei hätten Leserinnen und Leser sicher gern erfahren, dass mit der zentralen Forderung nach der "wahrheitsgetreuen, historisch-konkreten Darstellung der Wirklichkeit in ihrer revolutionären Entwicklung" auch das Feindbild des sozialistischen Realismus, der "Formalismus", aus einer damals aktuellen Polemik, der gegen die Literaturtheorie der russischen Formalisten um Viktor Schklowski, adressiert wurde. Es folgt eine Analyse der "Übertragung des Sozialistischen Realismus auf die DDR" (36-46). Auch hier wird der Widerpart des neuen Traditionalismus, der "Formalismus" in der Architektur, als Theorem, kaum aber als Baupraxis behandelt [1], während die längst bekannte Etablierung der Architekturideologie, durch die "sechzehn Grundsätze des Städtebaus", das Aufbaugesetz und die Gründung der Bauakademie, breit referiert wird (46-63). Karrasch wendet sich dann dem Begriff der "Widerspiegelung" zu; er zeigt die Übertragung dieses kunstästhetischen Axioms auf den Architektur-Bereich innerhalb der materialistischen Erkenntnistheorie und macht deutlich, welche Bedeutung die repräsentativen Bauten der Vergangenheit im Geschichtsverständnis des "historischen Materialismus" besaßen.
Im dritten Teil der Untersuchung widmet Karrasch der "linksnationalen" Ausrichtung damaliger Ideologie, noch heute manchen Linken ein Ärgernis, ein ganzes Kapitel, betitelt "Volk und Nation: Schlüsselelemente des architektonischen Ausdrucks" (72-81). Das ist nicht bloß notwendig für die Entwicklung seiner Gedanken, sondern ergibt sich aus der Logik der Sache: der Zusammenhang zwischen der Re-Etablierung einer hierarchischen Gesellschaftsvorstellung und der Aufnahme historisch-repräsentativer Bauformen ist offensichtlich. Hier drängte sich dem Autor ein Vergleich zwischen den Ausdrucksformen des "Nationalen" im Nationalsozialismus und in der frühen DDR auf; er führt diesen Vergleich aber nicht durch, sondern belässt es bei der Feststellung von "Ähnlichkeiten" und "Parallelen".
Die folgenden Kapitel befassen sich mit den allgemeinen Forderungen an die Architekten, die sich aus dem Wunsch nach einer realistischen Widerspiegelung der neuen Gesellschaft ergaben, mit dem ebenso geforderten Bezug zum "klassischen" Erbe und mit der daraus entwickelten Vorbild-Rolle des Klassizismus für die neue Architektur (145-181). In einem abschließenden Kapitel wird diese als "als ästhetischer und gesellschaftlicher Monismus" apostrophiert (181-197), bevor die Arbeit mit einem Resümee abschließt, das im Kern nur das bis dahin Festgestellte zusammenfasst.
Für eine Gesamt-Charakterisierung der Nationalen Bautradition übernimmt Karrasch hier den Begriff des "gekerbten Raums" von Gilles Deleuze und Félix Guattari, völlig isoliert von seiner sonstigen Argumentation, in der die räumlichen Spezifika der Architektur kaum vorkommen. Anstatt seine Arbeit in postmoderner Manier mit philosophischen Postulaten von Martin Heidegger, Deleuze und Guattari zu garnieren, hätte er besser eine ideologiekritische Analyse der Intentionen, die die Politiker antrieben, an den Anfang gestellt. Die Bezeichnung der Nationalen Bautradition als "konvertibles Machtinstrument", die den Gegenstand einfach hinfallen lässt, hätte sich so vermeiden lassen.
Die Ideologeme wären zudem an ihren Resultaten, den Bauwerken, die ja sein Buch bebildern, nachzuweisen. Der Architektur-Diskurs der Nationalen Traditionen war schließlich kein Selbstzweck, sondern auf die Erstellung wirklich "repräsentativer" Wohn- und Gesellschaftsbauten ausgerichtet. Dabei wurde immer wieder die "Stalinsche Sorge um den Menschen" hervorgehoben, und die strikt geforderte Verarbeitung der sowjetischen Architektur bezog sich auf deren großzügige funktionelle Auslegung wie auch auf die konkreten Gestalttypen, die Turmhäuser, die hohen, breit gelagerten Wohnblocks und die überhöhten "Palast"-Gebäude. Dass die Gestaltung der Großbauten keineswegs allein als Klassizismus charakterisierbar ist, hätte Karrasch dazu anregen können, im Hinblick auf die DDR der ideologischen Begründung für die Aufnahme anderer historischer Stile, so in Leipzig, Dresden und Rostock, nachzugehen. Dann wäre die bewusste Wahl klassizistischer Formen, besonders für die großen Kulturhäuser [2], als Ausdruck "gesamtdeutscher Tradition" genauer erkennbar geworden.
Alexander Karrasch hat es durch die Konzentration auf den Architektur-Diskurs verstanden, wichtige innere Zusammenhänge der traditionalistischen Bauideologie verständlich zu machen. Darin liegt der Wert seiner Arbeit. Die selbstgewählte Abstinenz gegenüber architekturhistorischen Fragestellungen und Forschungsergebnissen hat jedoch zur Folge, dass er weder die Grundüberzeugungen der Protagonisten noch das gebaute Ergebnis ihrer Tätigkeit in seiner historischen Spezifik zu erklären vermag. Dies bleibt eine Aufgabe für die zukünftige Forschung.
Anmerkungen:
[1] Siehe Andreas Butter: Neues Leben, Neues Bauen. Die Moderne in der Architektur der SBZ/DDR 1945 bis 1951 (zugl. Dissertation, TU Berlin), Berlin 2006.
[2] Siehe Ulrich Hartung: Arbeiter- und Bauerntempel. DDR-Kulturhäuser der fünfziger Jahre. Ein architekturhistorisches Kompendium (= architext; Bd. 3), Berlin 1997, 41f.
Ulrich Hartung