Marion Gindhart / Hanspeter Marti / Robert Seidel (Hgg.): Frühneuzeitliche Disputationen. Polyvalente Produktionsapparate gelehrten Wissens, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2016, 364 S., ISBN 978-3-412-50330-7, EUR 50,00
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Lange ein Stiefkind der Forschung, ist in den letzten Jahren die Aufmerksamkeit für das Disputationswesen der frühen Neuzeit stetig gewachsen. Die versammelten elf Aufsätze des anzuzeigenden, auf eine 2013 in Engi veranstaltete Tagung zurückgehenden Sammelbandes bestätigen, dass die Annahme nicht mehr zu halten ist, das frühneuzeitliche Disputationswesen, hier vor allem dasjenige des 17. und 18. Jahrhunderts, sei lediglich ein Annex der blühenden Disputationskultur des Mittelalters gewesen und als solcher Beleg für die vermeintliche Erstarrung der vormodernen Universität.
Wie die kundige Einleitung der Herausgeber darlegt, bildete die Disputation einen wesentlichen Bestandteil akademischer Praxis in der Frühen Neuzeit. Im Zentrum der Überlegungen steht die Dissertation, der Druck von Disputationsthesen. Diese stammten bis ins 18. Jahrhundert häufig aus der Feder des betreuenden Professors. Der Kandidat hatte sie als Respondent in einer Prüfungsdisputation gegen Einwände der Opponenten zu verteidigen. Die gedruckten Dissertationen stellen einen umfangreichen, editorisch bislang kaum erschlossenen Quellenfundus dar. Erhalten haben sich sowohl eher karge Zusammenstellungen von Thesen wie auch ausführliche Erläuterungen, die die Grenzen zur Gattung Traktat überschreiten. Möglich sind großflächige Auswertungen des Materials, um unter den Zeitgenossen gesicherte und daher in Disputationen rekapitulierbare Wissensbestände ebenso zu kartieren wie zeittypische Veränderungen in den Fragestellungen herauszuarbeiten.
Eine Alternative bieten die im Band dominierenden tiefenscharfen Falluntersuchungen, die die Rolle von Disputationen in personalen Karrierewegen oder an einzelnen Universitäten erhellen. Auffällig an den meisten Beiträgen ist, dass sich der jeweils gewählte Zugriff einer herkömmlichen Einordnung in Ideen-, Institutionen-, Personengeschichte oder Praxeologie verschließt. Häufig finden sich vielmehr - in je unterschiedlichen Mischungsverhältnissen - Aspekte all dieser Ansätze. Dieser, für die heutige Diskussion repräsentative integrative Zugriff mag ein wichtiger Grund für das anwachsende Interesse an frühneuzeitlichen Disputationen sein.
In einem programmatischen Beitrag setzt sich Marian Füssel mit der Herausforderung auseinander, dass die Dissertationsdrucke weder die Disputation repräsentierten, noch ein Skript für deren Ablauf sein wollten. Daher greift er auf Selbstzeugnisse zurück, um die Disputation als voraussetzungsreiche Performanz darzustellen. Während Briefe gerne die hohen Kosten diskutierten, erlauben Reiseberichte nicht zuletzt Einsichten in die Bedeutung der Kleidung der an einer Disputation Beteiligten als symbolischem Ausdruck von deren Rang. Bilder veranschaulichen den Aufführungscharakter der Disputationen, Satiren schließlich bieten eine kritische Sicht auf ein Element universitärer Selbstrepräsentation, dessen Bedeutung gerade daraus ersichtlich wird, dass es zu karikieren ein beliebtes Mittel von Reformdebatten war.
Ulrich Schlegelmilch rekonstruiert anhand einer in Thorn befindlichen Handschrift des Arztes Andreas Hiltebrand den Ablauf der Leidener Collegien des Botanikers und Anatomen Pieter Pauw und sucht, Aufschluss über den Ablauf der örtlichen Disputationen zu Beginn des 17. Jahrhunderts zu erhalten. Michael Philipp interessiert sich für das Verhältnis von Präses und Respondent. Anhand von Übungsdisputationen aus dem Themenbereich der Souveränität zeigt sich, wie die Beziehung zwischen Präses und Respondent in Bezug auf Machtverhältnisse, die Autorschaft sowie die Verwertungsabsichten stark variieren konnte. Auch Sabine Schlegelmilch wählt einen exemplarischen Fall, eine medizinische Disputation, die 1663 unter dem Vorsitz des Johannes Magirus in Marburg stattfand, um zu demonstrieren, dass auch in diesem formalisierten Rahmen eigenwillige Positionierungen möglich waren. Vor allem hinsichtlich der wachsenden Rolle individueller Erfahrung liefert die untersuchte Disputation wichtige Hinweise.
Reimund B. Sdzuj erinnert am Beispiel des Bremer "Gymnasium illustre" daran, dass Disputationen im 17. Jahrhundert keinesfalls auf Universitäten beschränkt waren. Ausgerechnet das Medium der Dissertation, so zeigt etwa eine von Johann Eberhard Schweling erstellte Dissertation über die Tierseele aus dem Jahr 1676, erwies sich hier als Einfallstor für die neuen cartesianischen Lehren. Bernd Roling untersucht den Niederschlag von Olof Rudbecks umfangreichem "Atland eller Manheim" im zeitgenössischen schwedischen Disputationswesen. Rudbecks Versuch, Platons Atlantis in Schweden wiederzufinden, bot in seiner Verbindung von Mythenexegese und spekulativer Philologie Rudbeckianern - wie den in Uppsala lehrenden Petrus Lagerlöf und Fabian Törner - reiches Material, das in zahllosen Disputationen diskutiert, vertieft und verbreitet wurde. Tanja van Hoorn legt dar, wie sich Gelehrte im Medium der Disputation in die um 1700 intensiv geführten theologischen, juristischen und medizinischen Diskussionen um Hexen einschalteten. Für Christian Thomasius bot dieses umstrittene Thema etwa die Möglichkeit, Aufmerksamkeit zu erregen und Netzwerke aufzubauen, die sich in anderen Zusammenhängen nutzen ließen. Der Botaniker Johannes Gessner vermochte in seinen Züricher Dissertationen Urs B. Leu zufolge, nicht nur aktuelle wissenschaftliche Diskussionen einem breiteren Publikum nahezubringen, sondern nutzte dieses Medium auch wiederholt, um neue Annahmen einzuführen und zu propagieren, etwa in Bezug auf den Ursprung der Fossilien oder die Pflanzenorgane.
Wie Robert Seidel darlegt, bemühte sich die Dissertation des Jenaer Magisters Basilius Christian Bernhard Wiedeburg aus dem Jahr 1744 darum, die Poesie innerhalb der Redekunst zu disziplinieren und vor schädlichen Exzessen zu warnen. Wiedeburgs Sorgen waren jedoch nicht nur prinzipieller, sondern auch pragmatischer Natur: Eine einseitige Spezialisierung auf die Poesie im Sinne Juan Huartes sah er als Gefahr für den weiteren Karriereweg junger Gelehrter an.
Gleich zwei Beiträge hat Hanspeter Marti beigesteuert. Der erste nimmt seinen Ausgang von einer 1741 gedruckten Dissertation Johann Bernhard Merians, einer (erfolglosen) Bewerbung um die örtliche Rhetorikprofessur, die als Repräsentant sowohl der Form Basler Dissertationen wie des dortigen Rhetorikunterrichts vorgestellt wird. Auf eine Darlegung des Argumentationsgangs erfolgt eine Weiterung des Blicks auf die Kontexte, welche Einsichten in das Basler Gelehrtenmilieu und dessen Beteiligung an den großen Themen der Zeit wie der Frage des Erhabenen ermöglicht. Martis zweiter Beitrag wählt eine umfassendere Perspektive, wenn er die Rolle der Litterärgeschichte oder "historia literaria" in philosophischen Disputationsschriften behandelt. Die Dissertationen erweisen sich dabei als Indikator für die allmähliche Institutionalisierung des Fachs im universitären Unterricht seit der Mitte des 17. Jahrhunderts. Wenn Marti statistische Auswertungen der Dissertationen deutscher Universitäten überleiten lässt in eine inhaltsorientierte Auswertung der in Zürich unterrichteten "historia literaria", werden noch einmal die Vorzüge des Bandes deutlich: Detailreiche Untersuchungen von Dissertationsschriften und deren Einbettung in ihre institutionellen, personalen und wissensgeschichtlichen Kontexte entwerfen ein ebenso reiches wie dichtes Bild des frühneuzeitlichen Disputationswesens in Mittel- und Nordeuropa und bieten vielfältige Anregungen für weitere Forschungen. Daran, dass die Beschäftigung mit Disputationen für die Universitäts- und Wissensgeschichte ein lohnendes Feld darstellt, dürfte nach der Lektüre des Bandes kein Zweifel bestehen.
Jan-Hendryk de Boer