Wolfgang Form / Theo Schiller / Lothar Seitz (Hgg.): NS-Justiz in Hessen. Verfolgung, Kontinuitäten, Erbe (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Hessen; 65,4), Marburg: Historische Kommission für Hessen 2015, XXV + 692 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-942225-28-1, EUR 19,90
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Die Ausstellung "Verstrickung der Justiz in das NS-System 1933-1945. Forschungsergebnisse für Hessen", die 2012 bis 2015 in hessischen Gerichtsstandorten zu sehen war und großen Zuspruch gefunden hat, soll mit diesem Sammelband erweitert werden. Er enthält Beiträge von fast zwanzig durch ihre wissenschaftliche und berufliche Expertise ausgewiesene Autorinnen und Autoren, die Dokumentation der Ausstellung einschließlich des Kataloges und einen Personen- und Ortsindex.
Der voluminöse Band besteht nach dem Vorwort der Herausgeber und vier Grußworten aus zwei großen Abschnitten zur "Zeit des Nationalsozialismus" und "Nach 1945". Einleitend informieren Werner Konitzer über die "Grundstrukturen der NS-Moral", Jens-Daniel Braun mit Georg D. Falk allgemein zu den deutschen Richtern 1933 und Arthur von Gruenewaldt speziell zu den Präsidenten des Oberlandesgerichts Frankfurt am Main. Dem 1933 "untragbar" (54) gewordenen ehemaligen Zentrumsmitglied Bernhard Hempen folgte der 1933 der NSDAP beigetretene Potsdamer Landgerichtsdirektor Otto Stadelmann, der sich aus "karrieristischen und ideologischen Motiven" (59) in den Dienst der NS-Justiz gestellt hatte und "überzeugter Nationalsozialist" (61) war. Der dritte und letzte Oberlandesgerichtspräsident war Arthur Ungewitter, ein "extremer Opportunist und Karrierist" (71). Nach seiner Haftentlassung und während seines Spruchkammerverfahrens musste er in untergeordneter Stellung bei einem Frankfurter Rechtsanwalt arbeiten. In seinem Resümee hält Arthur von Gruenewaldt fest, dass Stadelmann und Ungewitter "alle vorgegebenen Maßnahmen, auch wenn sie offensichtliches Unrecht waren, bewusst verfolgt und ausgeführt" (73) haben.
Das folgende Kapitel zur politischen Justiz wird von Wolfgang Form mit einem auf Hessen bezogenen Überblick eingeleitet. Er konstatiert als ersten Schwerpunkt der politischen Strafsachen die Verfolgung der KPD und ihres Umfeldes. Dann geht er auf die Delikte Hoch- und Landesverrat ein und beschreibt die Rolle des Volksgerichtshofs und der Oberlandesgerichte. In seinem Resümee hält er fest: "Mit dem politischen Strafrecht schuf das NS-Regime ein fast grenzenlos einsetzbares Instrumentarium zur Aufrechterhaltung, zur Festigung und zum Ausbau seines alleinigen Machtanspruchs." (104) Daran anschließend hat Harald Hirsch das Agieren des Sondergerichts Darmstadt untersucht. Er geht auf drei Verfahren ein, in denen Zusammenstöße zwischen Anhängern der NSDAP und der KPD verhandelt wurden. Es gab mehrere meist den NS-Gegnern zugerechnete Todesfälle, die zu Zuchthaus- und Gefängnisstrafen geführt hatten. Nach 1945 strengten Verurteilte Wiederaufnahmeverfahren an, in denen 1951 Anhänger der NSDAP zu Freiheitstrafen verurteilt wurden. "Sämtliche Strafen erklärte das Gericht mit der Untersuchungshaft und Internierung als verbüßt." (118) Während das Sondergericht zu Beginn der NS-Zeit vorwiegend Kommunisten verurteilt hat, kamen - nach der Übernahme von deren Verfolgung durch den Volksgerichtshof und die politischen Senate der Oberlandesgerichte - zunächst zunehmend Zeugen Jehovas und mit dem Regime Unzufriedene und "während des Krieges die sogenannten Volksschädlinge, wozu Schieber, Schwarzschlachter, Defätisten, Wehrkraftzersetzer, Gewaltverbrecher und Saboteure zählten" (147) ins Visier des Sondergerichts. Am Beispiel der Verurteilung des Gefreiten Werner Krauss ("Rote Kapelle") hat Gerd Hankel die Wehrmachtsjustiz untersucht. Krauss wurde zunächst zum Tode, dann zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt und hat den Krieg überlebt.
Im nächsten Kapitel geht es Rolf Faber um den Strafvollzug und u.a. die Vollstreckungsstätten von Todesurteilen: "Von den 240 Justizvollzugsanstalten des Deutschen Reiches wurden 1936 elf zu beständigen Vollzugsorten der Todesstrafe bestimmt." (182) Die Anzahl erhöhte sich bis Kriegsende auf 22, darunter auf dem Gebiet des heutigen Bundeslandes Hessen ab 1937 Frankfurt-Preungesheim. Den Justizvollzug am Beispiel der Justizvollzugsanstalt Diez hat Adolf Morlang untersucht. Er weist auf die Datenbank "Widerstand und Verfolgung unter dem Nationalsozialismus in Hessen" hin, die für seine Studie - und weitere Forschungsprojekte - eine wichtige Quelle darstellte.
In weiteren sehr informativen Regionalstudien haben sich Dietfrid Krause-Vilmar mit Schutzhaft und Konzentrationslager im Regierungsbezirk Kassel 1933 und Gunnar Richter mit dem Zusammenwirken von Staatspolizeistelle Kassel und Justiz am Beispiel des frühen Konzentrationslagers und Arbeitserziehungslagers Breitenau, sowie ähnlich Angelika Arenz-Morch mit dem KZ Osthofen und dem Sondergericht Darmstadt befasst. Als eines der wenigen Beispiele von Widerstand informieren Axel Ulrich und Stephanie Zibell über die Biografie von Wilhelm Leuschner und sein Vertrauensleutenetzwerk.
Im zweiten Abschnitt werden von Georg D. Falk kritisch die "ungesühnten Verbrechen" der NS-Justiz und von Theo Schiller die Entnazifizierung am Beispiel der Oberlandesgerichte Kassel und Darmstadt untersucht. Um Probleme der Aufarbeitung von NS-Verbrechen bei Strafprozessen am Landgericht Darmstadt geht es im Aufsatz von Volker Hoffmann: Verbrechen bei der "Machtergreifung", "Reichspogromnacht" - in beiden Fällen erfolgt keine begriffliche Distanzierung! - und Kriegsverbrechen, Einsatzgruppen, Polizeiverbrechen, Holocaust und Endphasenverbrechen. "Kann mithilfe der Strafjustiz politische Aufklärung geleistet werden?" fragt Werner Renz in seiner Studie über den Frankfurter Auschwitz-Prozess. Er erinnert an den Versuch des hessischen Generalstaatsanwalts Fritz Bauer, "eine Geschichtsstunde im Gerichtssaal abhalten zu lassen, [...]" (433) Aber: "Ein Strafprozess, dies musste auch Bauer erkennen, ist kein Geschichtskolleg, liefert keine historischen Erklärungen." (442)
Die Texte dieses Sammelbandes verdeutlichen in mehreren Beiträgen die Bedeutung der Strafverfahren für die frühe Zerschlagung der Arbeiterbewegung und die oft unbeachtet gebliebene bereits seit 1933 erfolgte Verfolgung jüdischer Menschen. Arenz-Morch hat dies prägnant ausgedrückt: "Juden wurden sogar in Bagatellfällen mit hohen Gefängnisstrafen belegt, alle gängigen antijüdischen Vorurteile fanden Eingang in die Urteilsbegründungen." (285) Die Studien informieren oft und ausführlich über die Lebenswege der Juristen, deren Verbrechen und die Skandale gescheiterter Strafverfolgung.
Ein besonderes Verdienst des von Wolfgang Form, Theo Schiller und Lothar Seitz herausgegebenen Bandes ist die Dokumentation der von Form koordinierten Ausstellung mit 44 Tafeln zu den Themenbereichen Moralität des Bösen, politische NS-Strafjustiz, Verfolgtengruppen, Sondergerichtsbarkeit, Militärjustiz, Strafvollzug, Erbgesundheitsgesetz, Auschwitz-Prozess, Nachkrieg, Juristen vor Gericht, Aufhebung von NS-Urteilen und Richter nach 1945. Nicht nur durch diese Dokumentation ist der reichhaltig illustrierte und aufwändig gestaltete Sammelband zu einem Meilenstein der juristischen und regionalen Zeitgeschichte geworden. Er erinnert sowohl an die furchtbaren Verbrechen der juristischen Täter und an die schrecklichen Schicksale der Opfer.
Kurt Schilde