Vanina Kopp: Der König und die Bücher. Sammlung, Nutzung und Funktion der königlichen Bibliothek am spätmittelalterlichen Hof in Frankreich (= Beihefte der Francia; Bd. 80), Ostfildern: Thorbecke 2016, 412 S., 25 Farbabb., ISBN 978-3-7995-7471-6, EUR 59,00
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Christine Juliane Henzler: Die Frauen Karls VII. und Ludwigs XI. Rolle und Position der Königinnen und Mätressen am französischen Hof (1422-1483), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2012
Andrew Brown / Jan Dumolyn (eds.): Medieval Bruges. c. 850-1550, Cambridge: Cambridge University Press 2018
Sébastien Cazalas: Jean Juvénal des Ursins, prélat engagé (1388-1473). Étude des épîtres politiques, Paris: Editions Honoré Champion 2020
Die 'Bibliothèque nationale de France', eine der großen Bibliotheken der Welt, steht in einer nicht minder großen Tradition. Denn ihren Anfang soll mit Karl V. (1364-1380) ein Herrscher im Geiste von Platons Ideal des Philosophen-Königs markieren, der in seiner Louvreresidenz eine eigene Bibliothek einrichtete, um mit und über seinen Büchern wissend und weise zu werden und zu herrschen. Es hatte mithin Symbolkraft, wenn bei der Grundsteinlegung des neuen, noch von Staatspräsident Mitterrand betriebenen Bibliothekbaus (TGB-Tolbiac) ein Stein aus dem Fundament des mittelalterlichen Louvre Verwendung fand. Bereits Christine de Pizan, deren Vater als Arzt und Astrologe am Hof Karls V. wirkte, hatte den Monarchen mit panegyrischem Lob bedacht, da er seiner Liebe zu Studium und Wissenschaft mit einer wohlgeordneten Bibliothek Ausdruck verliehen habe. Solches Bild von Karl und der Louvrebibliothek wirkt im Prinzip bis heute fort; es sei nur an die große Biographie 'Charles V le sage' von Françoise Autrand (1994) erinnert. Frau Kopp ist dieser Rezeptionsgeschichte in einem kürzlich erschienenen Aufsatz nachgegangen und glaubte, dabei in einen "Zerrspiegel" zu blicken (Francia 43, 2016, 63-85). Zu Recht weist sie auf den - wohlbekannten - Umstand hin, dass es keinerlei Kontinuität von der Louvre- zur Nationalbibliothek gibt, man der Geschichte letzterer aber gern die des königlichen Herrn der Bücher als eine Art Präludium voranstellt, in dessen Person sich Macht und Weisheit verbinden. Der Louvrebibliothek war tatsächlich nur eine gerade einmal 60 Jahre währende Existenz beschieden, nachdem Karl V. 1368 bei seinem Umzug aus dem Palast auf der Ile de la Cité dort bereits vorhandene Handschriften mit in den Louvre genommen und die durch Kauf, Schenkung, Tausch und eigene Aufträge erweiterte, aber auch stetig veränderte Sammlung mit Gilles Malet einem eigenen Bibliothekar anvertraut hatte. Mit der von Malet verkörperten Kompetenz und Kontinuität war es jedoch nach dessen Tod 1411 vorbei, als fortan - entsprechend den im Zeichen der Krise von Hof und Land rasch wechselnden politischen Konstellationen - ein Leiter dem anderen folgte. Es ist die Zeit der Kämpfe zwischen Armagnac und Burgund, des wieder aufflammenden Hundertjährigen Kriegs, von Lancasters Regiment auf dem Kontinent - und am Ende sollte dessen Statthalter Bedford die Bibliothek 1425 erwerben, deren Bestand nach seinem Tod alsbald in alle Winde zerstreut wurde. Erst die Umwälzungen der französischen Revolution ließen einige der alten Handschriften in die neue Bibliothek der Nation gelangen, die allenfalls an jene des Königs anknüpfte, welche Franz I. im 16. Jahrhundert begründet hatte.
Auch in ihrer hier anzuzeigenden Dissertation greift die Verfasserin die Rezeptionsproblematik auf, doch steht nunmehr die Louvrebibliothek selbst im Zentrum, wobei sich der Fokus vorrangig auf die Zeit Karls V. richtet. Dabei geht es in der im Rahmen einer cotutelle in Bielefeld und Paris entstandenen Arbeit nicht um kodikologische und kunsthistorische Sachverhalte oder um einzelne Handschriften, sondern - dem Untertitel entsprechend - um die Geschichte der Sammlung unter Karl V. und auch noch unter dessen gleichnamigem Sohn (1380-1422), um Fragen ihrer Nutzung in Netzwerken am Hof sowie um die von beiden Königen in Auftrag gegebenen, übersetzten und kommentierten Werke. Mit einem reichbestückten Methodikbaukasten Bielefelder Provenienz ausgerüstet, in der Thematik 'Archiv - Wissen - Macht' als Mitherausgeberin und -autorin eines einschlägigen Sammelbands ausgewiesen und offensichtlich mit allem Französischen in Leben und Wissenschaft vertraut (darüber kann ein Chlodwig schon mal zu Clovis werden, 208), weiß Kopp ihr Thema auf Grundlage umfassender Quellen- und Literaturkenntnis gut lesbar und mit (als solchen nicht gekennzeichneten) prägnanten Zusammenfassungen am Ende jedes Abschnitts sowie einem Schlussresümee überzeugend, wenn auch nicht frei von Redundanzen zu präsentieren. Kleinere Fehler seien hier übergangen, da es sich eben nur um kleinere, meist formale Versehen handelt.
583 Handschriften umfasste die Bibliothek 1373 unter Karl V., 836 bzw. 941 unter Karl VI. 1380 bzw. 1411, was überraschenderweise eine Wahrung und mehr noch: eine weiterhin stete Vergrößerung des Bestands auch in dessen krisenschweren Jahren belegt. Bis auf Ludwig von Anjou, der sich nach Karls V. Tod kräftig bediente, haben die Prinzen die Bibliothek also keineswegs geplündert, wie sie auch im 'normalen' Tausch- und Geschenkverkehr weitgehend außen vor blieben, obwohl die bibliophilen Interessen von Berry, Burgund und Orléans außer Zweifel stehen. Das bleibt unerklärt und gibt in der Tat Rätsel auf: War die 'Bücherebene' vielleicht eher eine von Funktionsträgern wie Sekretären, Räten und Leibärzten, die als dem König Handschriften Schenkende soziale Grenzen überschreiten konnten (vgl. 242), und die dem Herrscher wiederum die Möglichkeit eröffnete, über Remunerationen hinaus mit Buchgaben ihre Dienste anzuerkennen und Loyalitäten zu bestärken (vgl. 248), derweil man sich auf höherer Ebene Geschenke vom Wert eines Goldenen Rössls machte?
Über die Bestandszahlen wie auch Abgänge sind wir durch fünf zwischen 1373 und 1424 angelegte Inventarlisten sowie ein Defizitregister von 1411 unterrichtet, die - im Verbund mit weiteren Quellen - einen recht genauen Überblick über die Bibliothek erlauben, obwohl nur 10% der Handschriften erhalten sind. (Dass sie von Notaren der für die Bibliothek zuständigen chambre des comptes angelegt wurden, dürfte mit Kopp als kleines, aber bezeichnendes Indiz für die Stärke etatistischer Strukturen im spätmittelalterlichen Frankreich zu werten sein.) Diese Listen bilden die Grundlage für alle in der Arbeit erörterten Fragen wie auch für die im Anhang gebotene Rekonstruktion des Gesamtbestands der Bibliothek. Dabei wecken 12 mit Signaturen und 15 mit Exlibris Karls V. versehene Bücher besonderes Interesse, weil sie ihrerseits auf dessen besonderes Interesse deuten, was selbstredend für die von ihm in Auftrag gegebenen Werke gilt, darunter 14 Übersetzungen (zu denen mindestens 19 von Autoren in Eigenregie gefertigte kommen). Diese lassen wiederum nach dem Stellenwert von Latein und Französisch fragen. Mit Kopp steht ein "funktionaler Bilingualismus" (279) anzunehmen, das heißt man unterschied zwischen der Sprache von Kirche, Recht und Wissenschaft und einer auf größere Verbreitung gerade in Hof- und Laienkreisen zielenden Vernakularsprache, die aber nicht nur etwa bei Romanen, sondern unter Karl V. gerade bei innovativ legitimatorischen und herrschaftstragenden Texten wie dem Songe du Vergier, dem Rational des divins offices oder dem Livre du sacre Anwendung fand. (Wie sehr dem Monarchen an der sakralen Erhöhung des Königtums gelegen war, zeigt auch ein von Jean Golein bearbeiteter Traité du sacre, dessen Abschnitt über die königliche Salbung und Krönung Karl V. wohl selbst kommentierte; 201-211.) Dass hinter all dem, wie früher angenommen, steuernd ein 'club du roi' mit umfassendem 'programme culturel' gestanden habe, verneint Kopp entschieden, schon weil die Zahl der entsprechenden Übersetzungen recht gering war und Karl V. offensichtlich keine konsequente Verbreitungsstrategie verfolgte, wie sich im Fall der Aristotelesübertragungen des Nicole Oresme zeigt (299f.). Die Bibliothek diente in erster Linie eben dem König selbst als Arbeits- und Herrschaftsinstrument; sie hatte funktional-politischen Charakter, und so standen denn auch ihm wichtige Werke in jener ersten von drei Bücheretagen, die unmittelbar an die Gemächer des Monarchen grenzte. Wenn darunter die Astrologie auffällig stark vertreten war, sollte das vor einer von unseren Vorstellungen einseitig geprägten Sicht auf einen allein von rational-wissenschaftlichen Kriterien geleiteten 'roi-philosophe' warnen.
Dass sich aber das "geradezu überstilisiert(e) Bild" (326) des weisen, mit Büchern statt Waffen regierenden Königs so be- und verfestigen konnte, dafür sorgten nicht zuletzt auch die Prologe der ihm gewidmeten Werke und, mehr noch, zahlreiche Miniaturen, die ihn beim Studium der Bücher oder bei deren Übergabe an ihn zeigen. Da fehlt der Prunk des höfischen Umfelds, und dennoch besitzt dieser scheinbar mindere König, der auch in der Kleidung des einfachen clerc und ohne Krone dargestellt wird, mit seinem Studieneifer einen unschätzbaren persönlichen Mehrwert - bis heute. Ob Cliché oder Zerrbild, wer möchte schon auf einen solchen Bibliotheksstammvater verzichten, der trotz relativ kurzer Regierung dem ganzen 14. Jahrhundert seinen Namen gab ('le siècle de Charles V')? Dass letztendlich und vor allem Karls gelehrtes Bemühen um eine "legitimatorische Stärkung der Monarchie" aber auch einen erheblichen historischen Mehrwert bedeutete, da es einen wichtigen Beitrag zur Ausformung und Festigung des unverwechselbaren und bis in die Neuzeit wirkkräftigen Profils der französischen Königsnation leistete, wer wollte dieser treffenden Schlussfeststellung (332) einer ansonsten sehr dekonstruktionsfreudigen Autorin nicht zustimmen?
Heribert Müller