Elisa Brilli (ed.): Arnoldus Leodiensis. Alphabetum narrationum (= Corpus Christianorum. Continuatio Mediaevalis; CLX), Turnhout: Brepols 2015, CVIII + 752 S., ISBN 978-2-503-53200-4, EUR 435,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Randall B. Smith: Reading the Sermons of Thomas Aquinas. A Beginners Guide, Steubenville: Emmaus Academic 2016
Elizabeth Biggs: St Stephens College, Westminster. A Royal Chapel and English Kingship, 1348-1548, Woodbridge / Rochester, NY: Boydell & Brewer 2020
Simon Tugwell (ed.): Petri Ferrandi. Legenda Sancti Dominici, Rom: Angelicum University Press 2015
Das Alphabetum Narrationum gilt zu Recht als eine der originellsten Exempelsammlungen des gesamten Mittelalters. Der Dominikaner Arnold von Lüttich konzipierte dieses Werk zu Beginn des 14. Jahrhunderts als Arbeitsinstrument für Prediger. Er schuf dabei etwas, was keinem vor ihm gelungen war und auch keinem nach ihm gelingen sollte: insbesondere das hochentwickelte, raffinierte Verweissystem zwischen den einzelnen Exempla stellte ein absolutes Novum dar.
Die nun vorliegende Edition hat eine längere Vorgeschichte. Colette Ribaucourt war es nicht vergönnt, ihre Edition, die im Rahmen einer von Jacques Le Goff betreuten Dissertation entstanden war, zu vollenden. [1] 2007 erklärte sich Elisa Brilli als zeitlich befristetes Mitglied der "École des Hautes Études en Sciences Sociales" (EHESS) bereit, das Werk zum Abschluss zu bringen. Unterstützt wurde sie dabei von den beiden weltweit besten Spezialisten der Materie, Marie Anne Polo de Beaulieu und Jean-Claude Schmitt.
Über den Kompilator der Sammlung, Arnold von Lüttich, ist nur wenig bekannt und auch Brilli gelingt es in ihrem Vorwort nicht, hier substantiell Neues hinzuzufügen. Immerhin reklamierte Arnold im Vorwort zu seiner Sammlung die Zusammenstellung der Exempla mittels eines Akrostichons für sich selbst (Arnvldvs de Serain; "Seraing" war ein Vorort von Lüttich). Darüber hinaus lassen textinterne Hinweise die Abfassungszeit auf die Periode 1297-1308 eingrenzen. Früh hat die Forschung Arnold einen "manque de recherche d'originalité" (xxi) vorgeworfen, aber die Zurschaustellung von Originalität dürfte auch kaum seine Absicht gewesen sein. Arnold wollte die große Zahl an Exempelerzählungen bündeln. Prediger sollten sich ihrer im Rahmen von Evangelisierungs- und Konversionskampagnen bedienen. Das, was bisher auf viele Bücher verteilt war, sollte in einem einzigen, auf Reisen mitzuführenden Band zusammengefasst werden. Handlichkeit war das Gebot der Stunde und dies nicht nur in rein physischem Sinne.
Das Material, mehr als 800 Exempla, wurde alphabetisch geordnet und Arnold konzipierte eine Titelliste, die rund 550 Rubriken umfasste, um auf deren Grundlage die Gesamtheit der Erzählungen zu indizieren. Um ein Exemplum zu finden, reichte es also aus, unter dem Buchstaben nachzuschlagen, mit dem der Begriff bzw. das Thema, das in der Predigt behandelt werden sollte, begann. Vorläufer, die ebenfalls mit einem solchen alphabetischen System operierten, gab es zwar, doch war bisher kein Werk in der Lage gewesen, eine solche Stofffülle zu bewältigen. Arnold trug im Prozess der Indizierung auch seiner Überzeugung Rechnung, dass ein und dieselbe Erzählung mehrere Schlüsselwörter umfassen konnte - je nach der Sinnebene, die in der Predigt behandelt werden sollte. Die Rubriken reichen von einfachen Personen- oder Tiernamen über Berufsbezeichnungen bis hin zu Tugenden und Lastern oder abstrakten theologischen bzw. liturgischen Begriffen. Unter jeder Rubrik finden sich ein oder mehrere Exempla in Wortlaut, an deren Ende Arnold mit Verweisen auf weitere, in anderen Rubriken zu findende Exempla aufwartet, die ähnliche Inhalte behandeln.
Diese Vorgehensweise verknüpft nicht nur unterschiedliche Inhalte eng miteinander, sondern sorgt auch für große Flexibilität im Gebrauch, lässt sich ein und dasselbe Exemplum doch auf unterschiedliche Art und Weise ermitteln. Dies alles verleiht dem Werk eine "physionomie quasi encyclopédique" (xxvi). Dieser umfassende Zugriff ist nicht zuletzt extensivem Quellengebrauch zu verdanken: Arnold nutzt nicht weniger als 121 unterschiedliche Quellen mit dem Dialogus miraculorum des Cäsarius von Heisterbach an der Spitze. Zumindest gibt er dies vor, denn aller Wahrscheinlichkeit nach war seine stupende Quellenkenntnis nicht Ergebnis intensiver Bibliotheksrecherchen. Arnold zitierte vornehmlich aus zweiter Hand und konnte mit einer Phalanx von auctoritates aufwarten, die nicht unbedingt Rückschlüsse auf die Qualität der von ihm benutzten Bibliothek und/oder seiner eigenen Bildung erlauben. Der Graben zwischen nur angeführten und tatsächlich konsultierten Quellen ist ausgesprochen breit. Arnold nutzte darüber hinaus auch die Werke anderer Autoren, ohne diese explizit zu benennen. Das eklatanteste Beispiel hierfür ist sein Umgang mit den Specula des Vinzenz von Beauvais, aus denen nachweislich 130 Exempla stammen, ohne dass ihre Herkunft eigens vermerkt worden wäre. Wenn Arnold in die textliche Gestalt der von ihm übernommenen Exempla eingreift, dann lediglich in Hinblick auf syntaktische und semantische Vereinfachungen und schlichte Kürzungen. Eine réécriture findet nicht statt. Dies liegt in der Natur der Sache, dient die Sammlung doch als Steinbruch zur Predigtvorbereitung: "Ils sont des brouillons et des grilles d'interprétation sans velléités littéraires." (xxxiv)
Die avisierte Zielgruppe (und nicht nur die) fühlte sich ganz augenscheinlich angesprochen. Mehr als 90 vollständig und zehn partiell erhaltene Handschriften zeugen noch heute von dem großen Interesse, auf das der Text im dominikanischen Predigtmilieu stieß - in einem Anhang (III, xcv-ciii) finden sie sich aufgelistet. Seine geographische Verbreitung lässt auf einen Schwerpunkt im französisch-flandrischen Raum schließen. Die Marginalglossen einiger Handschriften geben Aufschluss über den Umgang mit den Predigtmaterialien, auf die auch von anderen Autoren wie Johannes Gobi oder John Bromyard bei der Abfassung ihrer eigenen Werke zurückgegriffen wurde. Übersetzungen ins Englische, Katalanische und Französische entstanden bereits im 14. Jahrhundert.
Eine große Variationsbreite besteht in der Anzahl und Anordnung der in den erhaltenen Handschriften überlieferten Exempla. Dies kann jedoch angesichts des enzyklopädischen Anspruchs und der Zielsetzung der Sammlung auch kaum erstaunen. Angesichts dieser Gemengelage war es nur folgerichtig, dass Ribaucourt/Brilli ihrer Edition eine Leithandschrift zugrunde legten, ergänzt durch einige weitere Handschriften derselben Gruppe. Längst schon hat man sich von der Vorstellung gelöst, bei Werken dieser Verbreitungsdichte ein "Autorenexemplar" rekonstruieren zu wollen, das - sollte diesem Vorhaben denn überhaupt Erfolg beschieden sein - doch nur eine Textversion widerspiegeln würde, die u. U. lokal begrenzt zirkulierte und einen falschen Eindruck von Verbreitung und Rezeption vermitteln würde. In vorliegendem Fall richtete sich das Auge auf die Handschrift der Bibliothèque nationale de France, nouvelles acquisitions latines 730, entstanden im 14. Jahrhundert in Nordfrankreich, herausragend durch die Quantität der Inhalte und die Qualität von Textgestalt und Organisation. Diese Handschrift wurde ausgehend von einer aus derselben Zeit stammenden, heute in der Biblioteca Ambrosiana (T. 45. sup.) verwahrten Handschrift korrigiert. Stellen, die der Mailänder Codex nicht überliefert, wurden anhand dreier weiterer Textzeugen kollationiert (BnF, mss. lat. 15255, 12402, 15913). Besonderes Augenmerk galt den paratextuellen Elementen, insbesondere dem Verweissystem, das Rückschlüsse auf die Arbeitsweise Arnolds erlaubt. Die Exempla wurden von 1-819 durchnummeriert. Um mögliche Verwirrung zu vermeiden, orientierte sich Brilli am bereits von Ribaucourt eingeführten System, das auch von den modernen englischen und katalanischen Übersetzungen verwendet wurde.
Appendix I listet die einzelnen Rubriken, die tatsächlich darin enthaltenen nebst denjenigen Exempla auf, auf die von Arnold lediglich verwiesen wird, die sich aber unter einer anderen Rubrik finden (lxvi-lxxxiii). Ausgesprochen aufschlussreich ist Appendix II (lxxxiv-xciv), in dem sich eine alphabetisch geordnete Tabelle mit den von Arnold angeführten Autoritäten samt Verweisen zu den entsprechenden Exempla und den (aller Wahrscheinlichkeit nach) tatsächlich verwendeten Quellen findet, die Arnold als eine Art Zitatensteinbruch nutzt. Auf eine knappe Auswahlbibliographie folgt der Editionstext (1-463), dem sich sog. Adnotationes (465-483), eine zusätzlicher Variantenapparat für die etwas komplexeren Fälle, und - für jede Erzählung, von Abbas bis Ypocrisis - die Fontes exemplorum (487-707) anschließen. Der weiteren Texterschließung dienen Indices der zitieren Bibelstellen, Autoren, Namen und Orte. Der eigentliche Text operiert mit zwei Apparaten, einem klassischen Variantenapparat und einem Apparat, der die in der Leithandschrift enthaltenen Marginalglossen verzeichnet und so auf den konkreten Umgang mit diesem Codex verweist.
Eine lange Arbeit ist zum Abschluss gekommen - und sie hat sich gelohnt. Die Sammlung ist eine Fundgrube nicht nur für Ordensgeschichtler und Predigtforscher, sondern grundsätzlich für alle, die sich an kulturgeschichtlichen Fragen des Mittelalters interessiert zeigen.
Anmerkung:
[1] Colette Ribaucourt: L'Alphabetum Narrationum: un recueil d'exempla compilé au début du XIVe siècle. Thèse de 3e cycle. Sciences des religions, sous la direction de Jacques Le Goff (EHESS, Paris), 1985, 3 Bde.
Ralf Lützelschwab