Rezension über:

Kristina Deutsch: Jean Marot. Un graveur d'architecture à l'époque de Louis XIV (= Ars et Scientia. Schriften zur Kunstwissenschaft; Bd. 12), Berlin: De Gruyter 2015, XII + 567 S., ISBN 978-3-11-037595-4, EUR 79,95
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Rezension von:
Monika Melters
Lehrstuhl für Theorie und Geschichte von Architektur, Kunst und Design, Technische Universität München
Redaktionelle Betreuung:
Sigrid Ruby
Empfohlene Zitierweise:
Monika Melters: Rezension von: Kristina Deutsch: Jean Marot. Un graveur d'architecture à l'époque de Louis XIV, Berlin: De Gruyter 2015, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 2 [15.02.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/02/28608.html


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Kristina Deutsch: Jean Marot

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Thema der umfangreichen Dissertation (Paris, Ephe / Dresden, TU) ist der Stecher und Architekt Jean Marot (1619-1679), der mit seinem druckgrafischen Erbe, dem "Petit" und dem "Grand Marot", zwei wichtige Anthologien zur französischen Architektur des 17. Jahrhunderts hinterlassen hat. Der Schwerpunkt der Analyse liegt auf den Stichen des "Grand Marot" und hier vor allem auf denen zum Louvre-Tuilerien-Palast in Paris, die in einem übersichtlichen Katalog angefügt sind. Ein zweiteiliger Werkkatalog mit dem Sticherbe des Künstlers und den ihm zugeschriebenen Zeichnungen ergänzt die Monografie.

Die leitende Herangehensweise ist eine künstlergeschichtliche. Auf der Grundlage von Leben und Werk Marots sucht sie mittels der exemplarischen, auf den prominenten Bau bezogenen Stichfolge als einer Form herrschaftlicher Repräsentation einerseits den reproduktiven bzw. interpretativen Anteil des architecte-graveur im unmittelbaren Bezug auf das Bauwerk sowie dessen nicht unkomplizierte Bau- und Planungsgeschichte zu erfassen. Andererseits zielt sie darauf ab, den künstlerischen Mehrwert der Stichfolge als Teil des Quellencorpus zur französischen Architekturgeschichte des Grand Siècle und Anthologie herauszustellen.

Das erste Kapitel, aus dem die Verfasserin die zentralen Fragestellungen ableitet, stellt unter der Überschrift "Einleitung" eine historische Definition der Parameter der höfischen Gattung Architekturstich in den Formen von Stichserie einerseits und Anthologie andererseits sowie eine Übersicht der Forschungsgeschichte zwischen 1670 und heute dar. Die beiden folgenden Textkapitel widmen sich Leben und Werk Jean Marots, Form und Organisation der Stichfolge des Louvre-Tuilerien-Palastes, der Analyse der Schriftquellen, dem Beitrag Jacques Lemerciers für das verbindende Planungskonzept von Louvre und Tuilerien aus der ersten Hälfte des 17. Jahrhundert sowie schließlich den drei Tafeln, die Marot zur Stichserie des Cabinet du Roi beigetragen hat. Ein zusammenfassendes Kapitel über den innovativen Beitrag Marots zur Gattung des Architekturstichs schließt den ersten Teil ab und präsentiert die Ergebnisse am Ende dieser zentralen Abschnitte des Buches.

Die umfangreichen Anhänge machen nahezu die Hälfte der Publikation und einen nicht geringen Teil seines Werts für die kunsthistorische Forschung aus. Hier findet man eine Liste der verschiedenen gedruckten Ausgaben des "Petit" und des "Grand Marot" in den öffentlichen Pariser Sammlungen, einen kommentierten Bildkatalog mit den Stichen des Louvre-Tuilerien-Palastes, der auf die Situierung des dargestellten Planungsabschnitts im Gesamtkomplex eingeht und Aufschlüsse über die Verwendung der Stiche in späteren Druckwerken sowie in der Literatur gibt. Ein Katalog zu den übrigen erhaltenen Stichen Marots sowie den ihm attribuierten Zeichnungen runden die Monografie ab. Die einzigartige Fülle des zusammengetragenen Materials bietet viele Möglichkeiten für künftige Auswertungen unter neuen Fragestellungen und mit unterschiedlichen Instrumentarien.

Die Ergebnisse von Deutschs Studie sind vielfältig. Zunächst bestätigen sich frühere Erkenntnisse, wie jene über den Zweck der um 1650 begonnenen und erst 1686 veröffentlichten Publikation im weiteren Kontext der Repraesentatio maiestatis und als gleichzeitigem Werbemittel für potentielle Auftraggeber auf dem Feld der Gegenwartsarchitektur. Die Adaption der historischen Vorgängerplanungen sowie der aktuellen Pläne François Mansarts, Louis Le Vaus und Gianlorenzo Berninis verdeutlichen diese Doppelstrategie, in der sich königliche mit historischer Architektur und eigenen Bauten und Projekten Marots vermischen. Daneben gelingt es der Autorin, beispielhaft auf ein missing link der Planungsgeschichte des Louvre hinzuweisen. Denn die Stichserie orientierte sich offensichtlich nicht nur am überkommenen Grand Dessein Heinrichs IV. (1589-1610), sondern ebenso an den verlorenen Planungen des Architekten Jacques Lemercier (1585-1654), der für Marot eine wichtige Rolle spielte und in den Jahren 1652/53 sehr wahrscheinlich ebenfalls einen Grand Dessein ausgearbeitet hatte (322).

Die bedeutendste Leistung des Buches aber dürfte das überzeugende Anliegen sein, auf die Revisionsbedürftigkeit der Geschichte des Architekturstiches hinzuweisen, und hier vor allem auf unser gängiges Verständnis von "Reproduktion". Dass die Autorin dabei selbst die künstlergeschichtlichen Fußfesseln dieses traditionellen Deutungsmusters nicht ganz abstreifen kann und dem reproduktiven Charakter des Architekturstichs so vehement das innovative Potenzial des architecte-graveur Marot entgegenstellt, ist aus künstlerischer Perspektive zweifellos berechtigt, reizt den interpretatorischen Spielraum aber nicht aus. Denn selbst ein Architekturstich wie der Jean Marots bleibt unter diesem Gesichtspunkt letztlich eben nur auf die Funktion einer innovativ formulierten "Quelle" für die jeweilige Bau- und Planungsgeschichte beschränkt. Auch durch die bipolare Unterscheidung der Forschung in eine architekturgeleitete und eine bildgeleitete Darstellungsabsicht tritt er nicht freiwillig aus diesem Zirkel heraus. Der nächste Schritt wäre, die Visualisierung des Bauwerks im Architekturstich - sei es als Einzelblattstich, in der Stichserie oder in der Buchform der Anthologie - aus einer mediengeschichtlichen Perspektive in den Blick zu nehmen. Das bedeutet zunächst, ihn nicht primär als Form der Dokumentation, der herrschaftlichen Repräsentation und als "Quelle" für Architektur oder, umgekehrt, als individuelles Kunstwerk zu betrachten, sondern nach seiner Eigengesetzlichkeit als Bildmedium zu fragen. Erste Ansätze zu einer solchen architekturhistorischen Medienforschung sind gemacht. [1] Beispielhafte kunsthistorische Handwerksarbeit dazu ist in dieser Studie geleistet.


Anmerkung:

[1] Andreas Würgler: Medien in der Frühen Neuzeit (= Enzyklopädie Deutscher Geschichte; Bd. 85), München 2009; Monika Melters / Christoph Wagner (Hgg.): Bildmedien der Architektur in Neuzeit und Moderne (= Zoom. Perspektiven der Moderne; Bd. 3), Berlin 2017.

Monika Melters