Lars Lüdicke: Hitlers Weltanschauung. Von »Mein Kampf« bis zum »Nero-Befehl«, Paderborn: Ferdinand Schöningh 2016, 199 S., ISBN 978-3-506-78575-6, EUR 19,90
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1969 legte Eberhard Jäckel die Studie "Hitlers Weltanschauung" vor; 1981 erschien sie als erweiterte und überarbeitete Neuausgabe. [1] Bis heute ist dieses Buch ein Standardwerk. Da es bereits 35 Jahre alt ist, wäre eine Arbeit über Hitlers Ideologie, die den neuesten Forschungsstand berücksichtigt, durchaus wünschenswert. Lars Lüdickes Buch trägt nicht nur denselben Titel wie Jäckels Studie, sondern ähnelt auch vom Umfang und von der Aufmachung her Jäckels Werk. Doch kann Lüdicke Jäckel inhaltlich ersetzen?
Lars Lüdicke geht von der Prämisse aus, dass die kritisch kommentierte Edition von "Mein Kampf", die im Januar 2016 vom IfZ herausgegeben wurde, nicht ausreichend sei, um Hitler zu erklären. (10) Dabei übt er Kritik an einer Arbeit, die noch gar nicht vorlag, als er sein Buch verfasste. Die vom Autor geforderte umfassende Einordnung von Hitlers Weltanschauung anhand aller Selbstzeugnisse des Diktators hat die IfZ-Edition selbstverständlich geleistet. Dabei hat sie auch Hitlers "Zweites Buch" in den Blick genommen - allerdings nicht in Form der veralteten Edition, die 1961 von Gerhard L. Weinberg herausgegeben wurde und auf die sich Lüdicke ausschließlich bezieht. [2] Seit 1995 liegt nämlich eine unter maßgeblicher Mitwirkung von Gerhard L. Weinberg entstandene Neuedition dieser wichtigen Quelle vor, und zwar als Teilband der Edition "Hitler. Reden, Schriften, Anordnungen". [3] Lüdicke hat jedoch nicht nur diesen Teilband übersehen, sondern die gesamte Reihe ignoriert. Denn Hitlers Reden der 1920er Jahre zitiert er nicht nach der einschlägigen Edition, sondern nach dem "Völkischen Beobachter". [4]
Im Mittelpunkt dieser Rezension sollen jedoch nicht diese propädeutischen Mängel stehen, sondern Lüdickes Anspruch, "den aktuellen Stand der Forschung" wiederzugeben. (10) Zunächst liefert der Autor einen knappen, lesenswerten Abriss der Hitler-Forschung in der Bundesrepublik Deutschland seit den 1950er Jahren. Danach stellt er dem Leser die zentralen Gedanken von Hitlers Ideologie vor. Hitlers Weltanschauung, so liest man, sei ein bewusster Gegenentwurf zur marxistischen Ideologie gewesen, und Hitler habe den Kampf als "Bewegungsgesetz der Menschheitsgeschichte" angesehen. (53) Dies hat Barbara Zehnpfennig in ihrer Interpretation von "Mein Kampf" indes bereits alles ausführlich herausgearbeitet. [5] Lüdicke verweist jedoch nicht auf Zehnpfennig, sondern ausschließlich auf zeitgenössische Dokumente. Auch die anderen Ideologeme von Hitlers Weltanschauung rekonstruiert er aus den Quellen, ohne die vorhandene Forschungsliteratur zu nennen.
Im dritten Teil der Arbeit bewegt sich der Autor auf dem eigentlichen Feld seiner Expertise, der NS-Außenpolitik, und arbeitet nun auch mit der Forschungsliteratur. Allerdings wird die Darstellung hier eindimensional, da Lüdicke sich zunächst nur auf die Vorbereitung des "Lebensraumkriegs" konzentriert. Die innenpolitische und gesellschaftliche Umsetzung von Hitlers weltanschaulichem Programm thematisiert er ebenso wenig wie etwa die ideologische Grundlage der deutschen Zusammenarbeit mit Japan, das Hitler in "Mein Kampf" noch als rassisch minderwertig beschrieben hatte. [6] Stattdessen führt Lüdickes Darstellung immer weiter vom Titel der Studie weg und bietet anstelle der Analyse von Hitlers Ideologie schließlich einen Abriss der Geschichte der Shoah, der allerdings sprunghaft wirkt und nicht frei von Widersprüchen ist.
Auch den anderen Passagen fehlt es an Stringenz. Der Autor hätte besser daran getan, sein Buch in Themenkomplexe zu gliedern und bestimmte Ankündigungen Hitlers (Eugenik, Euthanasie, Judenhass, Lebensraum) in einzelnen Kapiteln anhand der Chronologie zu verfolgen. Das Untergangsszenario, das Lüdicke am Ende seines Buchs schildert, steht zudem quellenmäßig auf einer besonders wackeligen Grundlage. Mehrmals zitiert Lüdicke ohne jede Kritik Hermann Rauschnings erfundene "Gespräche mit Hitler", stützt sich auf die fragwürdigen Nachkriegsaussagen von Albert Speer und schließt seine Darstellung mit einem längeren Zitat aus den "Bormann-Diktaten" ab, die aller Wahrscheinlichkeit nach durch ihren Herausgeber François Genoud gefälscht wurden. [7]
Darüber hinaus beruft sich Lüdicke auf eine (allerdings schon Jahrzehnte alte) Einschätzung von Klaus Hildebrand und bezeichnet die Hitler-Biografie von Joachim Fest "nach wie vor als definitiv". (30) Dies dürfte heutzutage kaum noch ein Hitler-Forscher, der mit dem Forschungsstand vertraut ist, unterstreichen, denn Fests Biografie ist in vielerlei Hinsicht nicht mehr aktuell. Auch die "sprachlich eindrucksvolle Form" der Biografie Fests, die selbst von dessen Kritikern immer wieder eingeräumt wird, erscheint fragwürdig: Man lese etwa Fests Verdikt über "Mein Kampf" und wird feststellen, dass Fests Aussagen nicht nur inhaltlich falsch sind, sondern auch sprachlich kaum weniger "prätentiös" und schwülstig daherkommen als viele Passagen in Hitlers Buch. [8]
Davon abgesehen enthält Lüdickes Darstellung eine Reihe sachlicher Fehler. So schreibt er mit Bezug auf die Memoiren von Rudolf Höß, Reinhard Heydrich habe Höß im Sommer 1941 vertraulich erklärt, Hitler habe die Endlösung der Judenfrage befohlen. (126) In Wirklichkeit erhielt Höß diese Information laut seinen Erinnerungen nicht von Heydrich, sondern vom Reichsführer-SS Heinrich Himmler. [9] Und Goebbels' oft zitierter Tagebucheintrag, die Juden würden jetzt nach Osten abgeschoben und durch ein "barbarisches und nicht näher zu beschreibendes Verfahren" dezimiert, stammt nicht vom März 1941, wie Lüdicke schreibt (127), sondern vom März 1942. [10] Schließlich wäre ein gründlicheres Lektorat des Bandes wünschenswert gewesen, finden sich darin doch nicht nur relativ viele Schreib- oder Druckfehler, sondern in einem Fall auch eine falsche Endnotenzählung. (34)
Als Fazit muss man festhalten, dass Lüdicke seinem Anspruch, eine Analyse von Hitlers Ideologie auf dem aktuellen Stand der Forschung zu liefern, nicht gerecht wird. Bis auf weiteres bleibt demnach Eberhard Jäckels Studie unersetzlich.
Anmerkungen:
[1] Eberhard Jäckel: Hitlers Weltanschauung. Entwurf einer Herrschaft, 2. Auflage, Stuttgart 1981.
[2] Hitlers Zweites Buch. Ein Dokument aus dem Jahre 1928, eingeleitet und kommentiert von Gerhard L. Weinberg, mit einem Geleitwort von Hans Rothfels, Stuttgart 1961.
[3] Hitler. Reden, Schriften, Anordnungen, Februar 1925 bis Januar 1933, hg. vom Institut für Zeitgeschichte, 6 Bde. (in 13 Teilbänden), München 1992-2003. Das "Zweite Buch" findet sich in Bd. II A unter dem Titel: Außenpolitische Standortbestimmung nach der Reichstagswahl Juni-Juli 1928.
[4] Vgl. etwa Lüdicke: Hitlers Weltanschauung, 111 mit Hitler. Reden, Schriften, Anordnungen, Bd. III/2, 348.
[5] Barbara Zehnpfennig: Hitlers Mein Kampf. Eine Interpretation, 2. Auflage, München 2002.
[6] Christian Hartmann / Thomas Vordermayer / Othmar Plöckinger / Roman Töppel (Hgg.): Hitler, Mein Kampf. Eine kritische Edition, 5. Auflage, München 2016, Bd. 1, Kapitel 11, 307.
[7] Willi Winkler: Der Schattenmann. Von Goebbels zu Carlos: Das mysteriöse Leben des François Genoud, Berlin 2011, 108-116. Für diesen Hinweis danke ich Dr. Hans Woller, München.
[8] Joachim Fest: Hitler. Eine Biographie, 11. Auflage, Berlin 2010, 309.
[9] Rudolf Höß: Kommandant in Auschwitz. Autobiographische Aufzeichnungen, hg. von Martin Broszat, 4. Auflage, München 1978, 157.
[10] Joseph Goebbels: Die Tagebücher von Joseph Goebbels, hg. von Elke Fröhlich, Teil II: Diktate 1941-1945, Bd. 3, München 1994, 561.
Roman Töppel