Martina Steber / Bernhard Gotto (eds.): Visions of Community in Nazi Germany. Social Engineering and Private Lives, Oxford: Oxford University Press 2014, XX + 336 S., ISBN 978-0-19-968959-0, GBP 65,00
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In den letzten Jahren wurde der Begriff der "Volksgemeinschaft" in der NS-Forschung kontrovers diskutiert. Zum einen wird seine Erklärungskraft für das Verständnis der inneren Funktionsweise des NS-Regimes und seiner gesellschaftlichen Bindekräfte im Spannungsfeld von Inklusion und Exklusion hervorgehoben. Auf der anderen Seite gibt es u.a. Zweifel an der Brauchbarkeit dieses zeitgenössischen Begriffs als Analysekategorie. [1] Der von Martina Steber und Bernhard Gotto herausgegebene Sammelband geht auf eine Tagung des Instituts für Zeitgeschichte (IfZ) und des DHI London vom März 2010 zurück. Er präsentiert den Stand der Diskussion und weiterführende Perspektiven. In ihrer informativen und konzisen Einleitung betonen die Herausgeber vor allem den Prozesscharakter des Projekts der "Volksgemeinschaft" als wichtigen Ansatz für die Forschung: "Volksgemeinschaft encompassed both a social utopia and precise instructions for realizing it. Its core component was not the individual but a collective subject, the Volk, being imagined as a timeless racial unit over which the Führer has been chosen to rule by destiny and could exercise unlimited authority." (2)
In diesem Sinne sei die "Volksgemeinschaft" als maßgeblicher Referenzrahmen der NS-Zeit anzusehen, der bis in persönliche Beziehungen hinein wirkte: "Social Engineering & Private Lives" lautet daher der Untertitel des Sammelbandes. Bedauerlich ist, dass der Begriff des "social engineering" nicht weiter ausgeführt wird. Das Verhältnis von "Volksgemeinschaft" und Privatheit steht zwar in dem Beitrag von Andreas Wirsching im Mittelpunkt und wird auch von Birthe Kundrus und Nicole Kramer aufgenommen. Dabei wird jedoch kaum Bezug auf die Massenmedien genommen, obgleich sie für die Verschränkung des öffentlichen und privaten Raums zentral waren. Trotz dieses Mankos zeigen die Beiträge des Tagungsbandes, dass mit dem Begriff der "Volksgemeinschaft" die komplexen Kommunikations- und Aushandlungsprozesse zwischen dem NS-Regime und den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen und Akteuren beschreibbar sind und vielfältige auf Inklusion wie Exklusion basierende soziale Praxen in den Blick geraten.
Der Band ist in sechs Abschnitte untergliedert. Der erste Teil zeichnet die großen Linien der Forschungskontroverse um den Begriff der "Volksgemeinschaft" nach und nimmt mit drei Beiträgen von Ian Kershaw, Michael Wildt und Ulrich Herbert die zentralen Positionen auf. Während Kershaw kritisiert, dass die "Volksgemeinschaft" als Propagandabegriff das Bild eines Konsens suggeriere, der nicht messbar sei, betont Michael Wildt die Langlebigkeit des Begriffs. So konnten sich die Menschen das Konzept der "Volksgemeinschaft" auch ohne ausgeprägten ideologischen Fanatismus im Sinne einer "Selbstermächtigung" aneignen und sich darüber sozial aufwerten. "Volksgemeinschaft" sei in diesem Sinne weniger als soziale Realität als vielmehr als soziale Praxis anzusehen. Ulrich Herbert verweist auf die Verbreitung nationaler Gemeinschaftsvorstellungen nach dem Ersten Weltkrieg in ganz Europa und gibt zu bedenken, dass die Idee einer "Volksgemeinschaft" nach 1945 kaum Spuren hinterlassen habe.
Die Aufsätze des zweiten Teils thematisieren "Volksgemeinschaft" als "new frame of reference" im Hinblick auf Ideologie, administrative Praxen und soziale Kontrolle. Als besonders fruchtbar erweist sich dieser Ansatz in dem Beitrag von Lutz Raphael. Er zeigt, dass die nationalsozialistische Weltanschauung gerade wegen ihrer Inkonsistenzen ein relativ offenes Feld gewesen sei, dass eine begrenzte Pluralität an Meinungen, Interpretationen und Betonungen zuließ, dessen Kernelemente unterschiedlich kombiniert werden konnten. Dies entsprach dem Aktionismus und der Willkürlichkeit der NS-Politik, die ihre Herrschaftsstrukturen fortwährend neu formierte. Armin Nolzen erörtert, wie flexibel die Rede von der "Volksgemeinschaft" vor Ort an den Bedürfnissen der jeweiligen Zielgruppen der NSDAP ausgerichtet war und spätestens ab 1933 als rassistisches Prinzip über die Politik gestellt wurde. Jane Caplan weist anhand der Standesämter nach, wie die Beamten neue Kategorien wie "Rasse" und "Erbgesundheit" in die Personenstandsdaten einflochten und damit aktiv zur Ausgrenzung beitrugen. Gerhard Wolf analysiert, wie das Projekt der "Volksgemeinschaft" auf die annektierten polnischen Gebiete übertragen werden sollte. Während das Reichsministerium des Inneren im besetzten Oberschlesien eher für einen inklusiven Auswahlprozess optierte und die Gauleiter vor Ort die Beurteilung der ethnischen Identität am Verhalten vor der deutschen Invasion festmachten, brachte Heinrich Himmler die Rasse als maßgebliches Kriterium ein.
Inspirierend sind vor allem die Aufsätze im dritten Abschnitt, die das Verhältnis von Individuum und NS-Regime thematisieren und dabei die mit der "Volksgemeinschaft" verbundenen Zukunftsversprechungen in den Blick nehmen. Andreas Wirsching zeigt, wie die NS-Propaganda bis weit in die Kriegszeit hinein privates Glück, basierend auf einer nach außen starken und nach innen homogenen "Kampfgemeinschaft", postulierte: "Private Normality could only be achieved by fighting in the public sphere, by combating the enemies of the nation, both internal and external" (152). Birthe Kundrus analysiert am Beispiel des Konsums die Versprechungs- und Verheißungssemantik des NS-Regimes, die ihrerseits positive Imaginationen und systemrelevante Integrationskräfte auslösen konnte. Das Regime nutzte die emotionale Bedeutung von Konsum aus. Volksgenossen und -genossinnen konnten das Gefühl haben, Teil einer Massenkonsumgesellschaft zu sein, ohne besorgt sein zu müssen über die ihr zugrunde liegende rassische Hierarchie. Der Glaube an Konsumprodukte, die bald zu bekommen seien, habe sich lange Zeit gehalten, da die Nationalsozialisten alles taten, um Spannungen wegen des Konsummangels zu reduzieren. Der Erfolg des Regimes, Bürger zu gewinnen, gründete, darauf weist Kundrus ähnlich wie Wirsching hin, auf einem Paradoxon: Die Aussicht auf individuelles Glück und ein sicheres Leben erschien sich aus einer Staatsdoktrin zu ergeben, die Wohlfahrt des Volkes über individuelle Belange stellte und behauptete, dass Privatheit nur über Politisierung realisiert werden könnte. Nicole Kramer analysiert in ihrem quellengesättigten Beitrag, wie Frauen während des Zweiten Weltkriegs die "Volksgemeinschaft" als Referenzpunkt für Aktivitäten an der "Heimatfront" nutzten, sei es um soziale Zugehörigkeit zu demonstrieren, sei es um Engagement in einem akzeptierten Rahmen zu zeigen oder individuelle Interessen durchzusetzen. Dies evozierte nicht nur Konsens mit dem NS-Regime, sondern barg auch Konfliktpotentiale, denn die Rhetorik von der "Volksgemeinschaft" beförderte soziale Wandlungsprozesse, die erst in der Nachkriegszeit unter anderen politischen Vorzeichen zum Durchbruch kamen wie die Ausbildung der modernen Konsumgesellschaft. Dass die Durchsetzung individueller Interesse nur wenig mit einer positiven Haltung zum NS-Regime zu tun haben musste und dennoch der Radikalisierung der NS-Politik diente, belegt der Beitrag von Frank Bajohr beispielhaft. So nahm etwa der aus einer bekannten Hamburger Familie stammende, aber beruflich erfolglose Nikolaus Sieveking einen Forschungsauftrag mit antisemitischer Stoßrichtung an, weil er sich davon eine Aufwertung seiner beruflichen Position erhoffte, obgleich er sich als Gegner des NS-Regimes betrachtete. Rüdiger Hachtmann wiederum zeigt, dass exklusive Herrenklubs zentrale Orte waren, in denen sich die etablierten Funktionseliten mit der jüngeren NS-Elite verbanden und sich in der neuen politischen Ordnung einrichteten.
Der Frage nach dem Konnex von "Volksgemeinschaft", Gewalt und Vernichtung gehen die Beiträge des vierten Teils nach. Die "Volksgemeinschaft" stellte die Voraussetzung für den Holocaust dar und war untrennbar mit ihm verknüpft, argumentiert Christopher Browning präzise. Die nationalsozialistische Idee der "Volksgemeinschaft" basierte von Beginn an auf dem Ausschluss der Juden, die als Zerstörer des "Geistes von 1914" angesehen wurden. Vor diesem Hintergrund und angesichts der totalen Exklusion der Juden aus der deutschen Gesellschaft sei es u.a. für die Wehrmacht ein kurzer Weg gewesen, sie zu Partisanen zu erklären und auch Frauen und Kinder als "Kriegsfeinde" zu töten. Sven Keller untersucht die Gewalt, die Anhänger des Nationalsozialismus 1933/34 und 1945 ausübten. Stabilität und Loyalität sollte in beiden Fällen durch Gewalt erreicht werden. Detlef Schmiechen-Ackermann beschreibt subtile Formen von Gewalt in Form einer sozialen Kontrolle und politischen Beobachtung, die von einer Vielzahl von Akteuren praktiziert wurden.
Die Beiträge des fünften Teils erörtern die Grenzen der "Volksgemeinschafts"-Konzepts. Johannes Hürter macht deutlich, dass es an substantiellen Studien zur Relevanz des "Volksgemeinschafts"-Konzepts für die Wehrmachtsangehörigen fehlt. Die Militärelite habe zwar die sozialharmonistischen Aspekte des Projekts goutiert, aber stets auf ihrem eigenen exklusiven sozialen Status beharrt. Deshalb könne die Frage, warum die militärische Führungsriege die ultima ratio des nationalsozialistischen Rassenkriegs übernahm, nicht allein durch die "Volksgemeinschaft" als Referenzrahmen erklärt werden. Dass das Projekt der "Volksgemeinschaft" bei der Landbevölkerung nur auf bedingte Resonanz stieß, zeigt Willi Oberkrome. Zudem entwickelten die Planer einer neuen agrarischen Ordnung ganz unterschiedliche Vorstellungen von "Volksgemeinschaft". In der Endphase des Krieges nahmen sich die Deutschen, so Richard Bessel, als atomisiert wahr. Die Gewalt habe die "Volksgemeinschaft" nicht stabilisiert, aber die Selbstprojektion einer "Opfergemeinschaft" der Deutschen als Leidtragende des Nationalsozialismus befördert.
Auch wenn nicht alle Aufsätze gänzlich neue Inhalte präsentieren, besticht der Tagungsband durch eine hohe Kohärenz und zeigt die Produktivität einer vielschichtigen und kulturgeschichtlich inspirierten Analyse der "Volksgemeinschaft" für die Gesellschaftsgeschichte des Nationalsozialismus auf. Dazu trägt vor allem die Einleitung bei, die das "Making" der "Volksgemeinschaft" betont, damit bislang kontrovers gegenüberstehende Meinungen zusammenführt und den Blick öffnet für soziale Praxen in einem fluiden "new frame of reference", bei dem Vorstellungen von Individualität und Normalität elementar mit Gewalt und Exklusion verbunden waren.
Anmerkung:
[1] Die Debatte wird rekapituliert bei Detlef Schmiechen-Ackermann: 'Volksgemeinschaft': Mythos, wirkungsmächtige soziale Verheißung oder soziale Realität im 'Dritten Reich'?, in: ders. (Hg.): 'Volksgemeinschaft': Mythos, wirkungsmächtige soziale Verheißung oder soziale Realität im 'Dritten Reich', Paderborn 2012, 13-53.
Lu Seegers