Dietmar Müller / Adamantios Skordos (Hgg.): Leipziger Zugänge zur rechtlichen, politischen und kulturellen Verflechtungsgeschichte Ostmitteleuropas, Leipzig: Leipziger Universitätsverlag 2015, 338 S., ISBN 978-3-86583-914-5, EUR 39,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Der zu besprechende Sammelband liefert erklärtermaßen Regionalwissenschaft im doppelten Sinne: Zum einen befassen sich die hier versammelten Beiträge zumindest nominell mit der Region Ostmitteleuropa, wenn diese auch unter Einbeziehung des postjugoslawischen Raumes, des Nordkaukasus und sogar Armeniens ungewöhnlich weit gefasst wird. Zum anderen entstanden sie überwiegend in Forschungszusammenhängen an der Universität Leipzig sowie am dortigen Geisteswissenschaftlichen Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas (GWZO, seit 2017 Leibniz-Institut für Geschichte und Kultur des östlichen Europa). Dieser Umstand erklärt sich auf den zweiten Blick dadurch, dass es sich offenbar um eine Festschrift für den in Leipzig lehrenden Stefan Troebst handelt, ohne dass die Herausgeber dies jedoch explizit machen würden.
Was hat es nun mit den angekündigten "Leipziger Zugängen" zur ost(mittel)europäischen Geschichte auf sich? Zwar setzen sich die Herausgeber lediglich zum Ziel, das "eigene, unverwechselbare Gepräge" des "Forschungsstandorts Leipzig" "zu dokumentieren und erlebbar zu machen" (8), und ein solches Unterfangen mag gewiss seinen Reiz und Nutzen haben, etwa für Studieninteressierte. Dennoch drängt sich angesichts der bunten Vielfalt, die hier präsentiert wird, die Frage auf, ob der Band mehr bietet als ein sprichwörtliches "Leipziger Allerlei".
Die 19 Beiträge gruppieren sich zu vier thematischen Feldern. Eröffnet wird der Band von fünf Studien zur Völkerrechtsgeschichte, die sich vorrangig osteuropäischen Impulsen für die Herausbildung des Völkerrechts in der Zwischenkriegszeit sowie dem Einfluss der jugoslawischen Nachfolgekriege auf internationale Rechtsprechungs- und Friedensvermittlungsprozesse widmen. Es folgen fünf Beiträge, die "transnationale Verflechtungsgeschichte" zu schreiben versprechen und sich so verschiedenartiger Gegenstände wie der Deutung des Jahres 1989 als "globaler Moment" oder der Sozialgeschichte akademischer "Professionen" im Ost-West-Vergleich annehmen. Einen vergleichsweise konsistenten Schwerpunkt bilden die nachfolgenden Aufsätze zu Problemen der Erinnerungs- und Geschichtskultur, wenngleich auch hier das Spektrum der Fallstudien in geografischer wie chronologischer Hinsicht breit ist und von Dresden bis zur einstigen armenischen Hauptstadt Ani sowie von den Anfängen der bulgarischen Nationalbewegung in der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Eurovision Song Contest in der Ukraine nach der "Orangenen Revolution" reicht. Drei sozialwissenschaftliche beziehungsweise sozialanthropologische Beiträge zu Minderheitenfragen schließen den Reigen ab.
Auffällig ist, dass die Ansätze zu einer Verflechtungsgeschichte des östlichen Europa, wie sie sich in dem vorliegenden Band präsentieren, mit wenigen Ausnahmen auf das 20. Jahrhundert fokussiert sind. Ein deutlicher Schwerpunkt liegt auf der jüngsten Zeitgeschichte nach 1989, was nicht zuletzt der Offenheit für sozial- und kulturwissenschaftliche Impulse geschuldet ist. Im Gegensatz zu dieser eher engen chronologischen Perspektive steht das breite räumliche Spektrum der Beiträge: Neben Ostmittel- und Südosteuropa schließt dieses auch die südlichen Peripherien des russischen beziehungsweise sowjetischen Imperiums ein, während dessen Zentrum ausgeklammert bleibt. Damit bietet der Band einen geradezu komplementären Gegenentwurf zur früheren Moskauzentriertheit westlicher Osteuropaforschung. Weniger greifbar werden die Konturen des titelgebenden Konzepts der Verflechtung: Was im östlichen Europa auf welcher Ebene womit verflochten sein könnte, wird von den Beiträgern recht divers beantwortet. Dort, wo solche Fragen überhaupt aufgeworfen werden, stehen zumeist Verflechtungen mit der internationalen politischen und völkerrechtlichen Ordnung sowie mit dem einstigen imperialen Zentrum im Mittelpunkt, wohingegen Initiativen zur Förderung der Verflechtung innerhalb der Region sich eher als wishful thinking erweisen, wie etwa Frank Hadlers Beitrag über die ostmitteleuropäische Visegrád-Gruppe zeigt.
Nicht wenige der Einzelbeiträge zeichnen sich durch eine anregende Verbindung von mutiger, innovativer Thesenbildung mit konziser empirischer Fallanalyse aus. Drei besonders lesenswerte von ihnen seien hier exemplarisch herausgegriffen, wobei die wissenschaftlichen Interessen des Rezensenten bei einer solchen Auswahl naturgemäß nicht zu verleugnen sind. Beispielhaft illustriert etwa Martina Balevas empirisch dichte Analyse des "Facebooks der bulgarischen Nationalhelden" aus dem 19. Jahrhundert, dass die Erforschung visueller Aspekte von Geschichtskultur weit über bloße Bildbeschreibung hinausgehen kann. Auch Sabine Stachs Betrachtung des tschechoslowakischen beziehungsweise tschechischen Gedenkdiskurses über den "Opferhelden" Jan Palach beeindruckt durch eine gelungene Verortung ihres Untersuchungsgegenstandes in übergreifenden Fragestellungen, namentlich dem Spannungsfeld zwischen heroisierender und viktimisierender Erinnerungskultur. Jan Zofkas vergleichende Studie über Fabrikdirektoren, die zu Beginn der 1990er Jahre in Transnistrien und Nordwestbosnien zu führenden Akteuren separatistischer Bewegungen avancierten, liefert schließlich Einblicke in die wechselseitige Wandelbarkeit von ökonomischem, sozialem und politischem Kapital in postsozialistischen Transformationsgesellschaften, die auch über die gewählten Fallbeispiele hinaus aufschlussreich sind.
Die meisten der versammelten "Leipziger Zugänge" verbinden ein sympathisches Interesse für Ungewöhnliches und auf den ersten Blick Abseitiges mit einer geschärften Aufmerksamkeit für die transnationalen Dimensionen ihrer Gegenstände und einer sichtlichen Skepsis gegenüber alten und neuen Meistererzählungen. Wo es gelingt, die Untersuchung des Speziellen fruchtbar mit Fragen nach dem Allgemeinen zu verschränken, eröffnet dies interessante neue Perspektiven - wo der Bezug auf größere Zusammenhänge hingegen allzu oberflächlich bleibt oder aber die nötige empirische Tiefenschärfe fehlt, kann man sich des Eindrucks einer gewissen Beliebigkeit nicht erwehren. Es bleibt eine offene Frage, inwieweit all dies, vom Produktionsort einmal abgesehen, spezifisch "Leipzig" ist oder doch nur den generellen fragmentierten Status des Historischen nach dem Ende der "großen Erzählungen" widerspiegelt. Wünschen nach übergreifender Reflexion und historischer Synthese entspricht der vorliegende Band jedenfalls kaum, und er will es auch gar nicht. Das mag dem Format einer Festschrift angemessen sein. Doch so faszinierend es zweifellos ist, die einzelnen Steinchen eines Mosaiks aus nächster Nähe unter die Lupe zu nehmen - ihr Sinn erschließt sich doch erst demjenigen vollständig, der auch einmal einen Schritt zurücktritt und das Mosaik als Ganzes in Augenschein nimmt.
Florian Peters