Dietmar Müller: Bodeneigentum und Nation. Rumänien, Jugoslawien und Polen im europäischen Vergleich 1918-1948 (= Moderne europäische Geschichte; 17), Göttingen: Wallstein 2020, 479 S., ISBN 978-3-8353-3644-5, EUR 48,00
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Diese Rezension erscheint auch in der Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung.
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Der vorliegende Band, die Habilitationsschrift Dietmar Müllers, beruht auf dessen Forschungsarbeiten zum Bodeneigentum in Ostmittel- und Südosteuropa, unter anderem im Rahmen der in Leipzig durchgeführten Forschungsprojekte "Bodenrecht, Kataster und Grundbuchwesen im östlichen Europa" und "Rechtskulturen in Ostmitteleuropa". Das Buch vergleicht die Länder Rumänien, Jugoslawien und Polen im Zeitraum 1918-1948. Der Verfasser begründet diese Fallauswahl damit, dass dort die Frage des Bodeneigentums mit einer Vielzahl nationaler, sozialer und rechtlicher Konflikte verbunden gewesen sei. Gerade in diesen drei Nachfolgestaaten der Habsburgermonarchie bestanden unterschiedliche Rechts- und Verwaltungsstrukturen bezüglich des Bodeneigentums. Die deutschen oder österreichisch-ungarischen Bodenevidenzsysteme (zum Beispiel Kataster, Grundbuch) stießen hier auf jene aus dem jeweiligen "Altreich".
Der Verfasser analysiert die "Eigentumsregime" anhand dreier unterschiedlicher Ebenen. Die erste Ebene der Normen, Vorstellungen, Gesetze und Verordnungen zum Bodeneigentum entspricht in etwa dem ersten Kapitel. Darin analysiert Müller den Eigentumsbegriff in den Verfassungen der ostmitteleuropäischen Staaten in der Zwischenkriegszeit und geht darüber hinaus auf die verfassungsrechtlichen Diskurse und zeitgenössischen Diskussionen um das Bodeneigentum ein. Er stellt dabei fest, dass die liberal-individualistische Ansicht, die noch uneingeschränkt das Privateigentum garantierte, allmählich durch eine neue, national-protektionistische Meistererzählung abgelöst würde. Er identifiziert dabei erstens den Einfluss des solidaristischen französischen Rechtsgelehrten Léon Duguit in Ostmittel- und Südosteuropa, zweitens die bestehenden lokalen und kommunalen Systeme, wie die serbische Heimstättengesetzgebung, und drittens die Tatsache, dass sich nach dem Ersten Weltkrieg der Sozialstaat und das Bedürfnis nach staatlichen Interventionen massiv ausweiteten.
Die zweite Ebene ist die der "Governance" des Bodeneigentums. Dabei geht es nicht nur um die Umsetzung der verfassungsrechtlichen Grundsätze in technische und administrative Strukturen, wie zum Beispiel eine effektive Geodäsie und die Einführung eines Grundbuchsystems, sondern auch um die Interessen der betroffenen Professionen. So habe zum Beispiel in Rumänien das öffentliche Notariat - im ehemals habsburgischen Siebenbürgen für ein gut funktionierendes System der Bodenevidenz zuständig - den Interessen der Rechtsanwälte im rumänischen "Altreich" gegenübergestanden. Bei den Bodenreformen im Rumänien der Zwischenkriegszeit, die den Großgrundbesitz enteignen und zugunsten der Kleinstbauern umverteilen sollten, sei also neben den sozialen, landwirtschaftlichen und ethnischen Faktoren eine weitere Dimension im Spiel gewesen: Die Rechtsanwälte hätten zum Schutz der Zukunftsperspektiven und finanziellen Interessen ihrer Berufsgruppe ihren Einfluss auf politische Parteien, das Parlament und das Rechtssystem geltend gemacht.
Im dritten Hauptkapitel konzentriert sich der Verfasser auf zwei besondere Aspekte: einerseits die Darstellung des Bodeneigentums als Teil des Nationsbildungsprojektes, andererseits die Internationalisierung dieser Frage durch den Minderheitenschutz des Völkerbunds. Hier schränkt er den geografischen Rahmen auf die Fallbeispiele Siebenbürgen, Bukowina, Vojvodina und Galizien ein. Obgleich die angekündigten binnennationalen Vergleiche zwischen einzelnen Regionen (27) im Rest der Studie leider relativ oberflächlich bleiben, führt Müllers Verknüpfung der Diskurse des Bodeneigentums und der jeweiligen Nationsbildungsprojekte in diesem Kapitel zu interessanten Befunden. Während zum Beispiel die Agrarreform in Westpolen mit der Enteignung der deutschen Minderheit, um vergangenes Unrecht wiedergutzumachen, einen ausgeprägt "revendikativen Charakter" (323) getragen habe, habe die Ansiedlung polnischer Kolonisten im mehrheitlich ukrainischen Ostgalizien als zivilisierende Maßnahme zur wirtschaftlichen Modernisierung und kulturellen Hebung der Region gegolten.
Das Buch ist innerhalb der einzelnen Kapitel nach den nationalen Fallstudien gegliedert. Die jeweiligen Unterkapitel über Rumänien sind die ausführlichsten; die Abschnitte zu Polen sind dafür kürzer gehalten und basieren stärker auf der einschlägigen Sekundärliteratur. Die Gliederung ist mit Blick auf die Komplexität der jeweiligen diskursiven, rechtlichen und verwaltungstechnischen Kontexte durchaus nachvollziehbar. Allerdings hält sich der Verfasser mit Rückschlüssen auf Bodeneigentum und Nation in Ostmitteleuropa insgesamt weitgehend zurück. Er überlässt es der/dem Leser*in, den Überblick zu behalten und Lehren aus dem Buch gegebenenfalls auf andere Länder in der Region zu übertragen.
Müllers Entscheidung, auch den Zeitraum der sogenannten "Volksdemokratien" 1944/45-1948 einzubeziehen, soll besonders positiv hervorgehoben werden. Er widerspricht explizit der gemeinhin in der Historiografie Ostmitteleuropas vertretenen Darstellung, dass die Bodenreformen der Nachkriegszeit eine "Vorstufe" der kommunistischen Kollektivierung gewesen seien und nicht erkennbar mit den positiv bewerteten Bodenreformen der Zwischenkriegszeit zusammenhängen würden (326-329). Müller hebt gerade die Kontinuität der Diskurse und rechtlichen Konstruktionen hervor, zum Beispiel bei der Idee, dass Bodeneigentum eine kollektive Verpflichtung für das Wohl der Nation beinhalte. Ironischerweise drängten gerade die liberalen und nationalbäuerlichen Parteien Nachkriegsrumäniens auf eine schnelle Kollektivierung, während die kommunistischen Parteien versucht hätten, die Entwicklung zu bremsen, sich als "Freunde der Bauern" (336) darzustellen, und in zynischer Weise sogar den liberal-individualistischen Eigentumsbegriff und nationalistische Begründungsmuster für die Agrarreform hervorhoben.
Leider wird in dem vorliegenden Buch kaum auf die Kriegszeit und ihre Auswirkungen auf Bodeneigentum und Nation eingegangen. Der Verfasser bestätigt sogar explizit, dass in Osteuropa nach 1945 eine viel breitere Basis für radikale Eingriffe in die Bevölkerungs- und Eigentumsstruktur vorhanden gewesen sei. Aber gerade dann ließe sich nach den Kriegserfahrungen in Polen und Jugoslawien mit Blick auf Diskurse und Praktiken des Eigentumsrechts fragen. Bei der Feststellung einer Kontinuität hinsichtlich Bodeneigentum und Nation wirkt es merkwürdig, die Geschichte der Diskurse und Praktiken 1939/41 abzubrechen und nach 1944/45 fortzusetzen, ohne die Spuren der Entrechtung und Vertreibung unter deutscher Besatzung zu berücksichtigen.
Die dritte Ebene der "Eigentumsregime", die gesellschaftliche Dimension und die agency der bäuerlichen Bevölkerung, wird erst am Ende der Studie, unter der Überschrift "Zusammenfassung und Ausblick", weiter vertieft. Nach dem Überbau der Staaten, Verfassungen und ethnischen Minderheiten und dem Mittelbau der Institutionen und Verwaltungsstrukturen lenkt Müller seine Aufmerksamkeit hier auf die Handlungsoptionen der Landbevölkerung. Dabei macht gerade dieser Unterbau, die soziale, wirtschaftliche und kulturelle Realität auf dem Land, einen beträchtlichen Teil des "Alleinstellungsmerkmals" (27) der Region Ostmitteleuropa in diesem Zeitraum aus. In vielen Fällen erfolgte die Aufteilung der großen Landgüter nach beiden Weltkriegen durch spontane, "wilde" Aktionen der lokalen Bevölkerung, die erst nachträglich durch Gesetze und Verwaltungsakte legitimiert wurden. Dagegen sei die Durchführung der "Elitenprojekte" (411) Umverteilung, nationale Erneuerung oder Kolonisierung in beiden Agrarreformen gescheitert. Das besondere Verdienst dieses Werks für die Ostmitteleuropaforschung liegt in der Hervorhebung dieses bislang größtenteils unerforschten Mittelbaus von Akteuren und Strukturen der Bodenevidenzsysteme.
Kristian Mennen