Anna Minta: Staatsbauten und Sakralarchitektur in Washington/DC. Stilkonzepte patriotischer Baukunst, Berlin: Dietrich Reimer Verlag 2015, 481 S., zahlr. s/w-Abb., ISBN 978-3-496-01531-4, EUR 69,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Diese Rezension erscheint auch in KUNSTFORM.
Dass die am Beginn der politischen Moderne stehende amerikanische Demokratie unter starkem Rückgriff auf antike Vorbilder ausgestaltet wurde, ist seit Langem bekannt. Die Rezeption der Antike in der frühen Republik war überaus lebendig und durchzog nahezu alle Aspekte der politischen Kulturen in ihren habituellen, visuellen und materiellen Dimensionen.
Ihren sichtbarsten Ausdruck fand diese Antikenrezeption in der Architektur öffentlicher Repräsentationsbauten, insbesondere in der auf der grünen Wiese geplanten Hauptstadt Washington, D.C., aber auch anderswo in den USA. Vieles davon ist in Form von klassischen Baumonografien bereits erforscht worden. Ebenso war über die erinnerungs- und identitätspolitische Funktion der neoklassizistischen Architektur der Mall schon einiges in Grundzügen bekannt. Es fehlte bislang an einer Zusammenschau, die nicht nur die bestehende Forschung synthetisiert und baugeschichtliche Lücken durch quellengesättigte Fallstudien schließt, sondern die auch die ideologische Instrumentalisierung von europäischen Baustilen als integralen Bestandteil nationaler Identitätsfindung in den USA systematisch, materialreich und methodisch stringent untersucht.
All dies leistet die hier angezeigte, am Institut für Kunstgeschichte der Universität Bern als Habilitationsschrift angenommene Studie, die als großer Wurf zu bezeichnen ist. Sie untersucht Stil und Ikonografie der öffentlichen Repräsentationsbauten in Washington, D.C., in Abhängigkeit von den geschichts- und identitätspolitischen Debatten der Republik. Dies tut sie mit zwei zeitlichen Schwerpunkten, deren erster die Zeit der frühen Republik und deren zweiter die Zeit vom Ende des Bürgerkrieges bis zu dem "in Washington/DC spät einsetzenden Beginn der Moderne in den 1940er Jahren" ist (11).
Im Zentrum der Untersuchung steht weniger die Baugeschichte einzelner Gebäude, obwohl auch hierzu viel Wissenswertes und in Teilen auch substantiell Neues zu erfahren ist. Es geht vielmehr um die quellengesättigte Rekonstruktion der Stildiskussionen und deren identitäts- und geschichtspolitische Bedeutung. In diesem Zusammenhang entdeckt die Studie einen regelrechten "Battle of Styles", einen über die kontroverse Auseinandersetzung mit europäischen Stiltraditionen ausgetragenen Kampf um einen amerikanischen Nationalstil, in dem sich nach der politischen auch die kulturelle Unabhängigkeit der USA manifestieren sollte.
Die Sachanalyse der Studie geht in drei Großschritten vor. Das auf die Einleitung folgende zweite Kapitel untersucht die Anfänge der politischen Repräsentationsarchitektur in der Gründungphase von Washington, D.C. Hier wird zunächst (Kap. 2.1) die in den Jahren 1791/92 entstandene Hauptstadtplanung von Pierre Charles L'Enfant in ihren räumlich-symbolischen und erinnerungspolitischen Dimensionen erörtert. Anschließend werden (Kap. 2.2) mit dem Weißen Haus, dem Kapitol und dem Washington Monument drei frühe politische Repräsentationsbauten analysiert. Im darauffolgenden dritten Kapitel geht es dann mit dem Lincoln Memorial, dem United States Supreme Court und dem Jefferson Memorial um drei öffentliche Repräsentationsbauten, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts entstanden sind.
Dabei wird einerseits deutlich, dass die öffentlichen Stildebatten von einem breiten kunsthistorischen Wissen über klassisch-antike, gotische und romantische Stile sowie die Formenvielfalt der Renaissance, des Barock, des Historismus und der Beaux-Arts getragen waren. Ebenso deutlich wird anderseits, dass der neoklassizistische Baustil als der für die amerikanische Demokratie angemessenste gesehen wurde.
Die Gründe dafür waren vielfältig. Der neoklassizistische Stil stellte die amerikanische Demokratie in die Traditionen des klassischen Republikanismus, und er befriedigte zugleich das damals stark ausgeprägte "Bedürfnis nach triumphaler Repräsentation durch architektonische Monumentalisierung" (118). Nicht nur Grandeur und Würde der amerikanischen Republik kamen demnach im Neoklassizismus zum Ausdruck, sondern auch ihr Anspruch auf Dauerhaftigkeit und künftige imperiale Größe.
Im Gegensatz dazu weckte die Gotik in den USA, anders als in England, Schottland oder auch Deutschland, keine nationalistischen Gefühle. Als 'englisch' stigmatisiert wurde die Gotik als Baustil einer mittelalterlich-autoritären Ordnung gesehen, die mit der amerikanischen Demokratie überwunden worden sei.
Allerdings stieß die Hegemonie des Neoklassizismus in den USA immer wieder auf Kritik. Der Vorwurf des unkreativen Kopistentums wurde bereits im 19. Jahrhundert wiederholt vorgebracht. Nach 1900 traten dann zudem Vertreter der architektonischen Moderne als Kritiker auf den Plan; für sie war die Emanzipation von europäischen Stilvorbildern erst mit der Skyscraper-Architektur in Städten wie Chicago und New York erreicht.
Mit dem vierten Kapitel wendet sich die Studie zwei monumentalen Kirchenbauprojekten des 20. Jahrhunderts zu, und zwar der National Cathedral der Episkopalkirche und der römisch-katholischen Basilica of the National Shrine of the Immaculate Conception. In ihnen setzte sich der "Battle of the Styles" in anderer Form fort, weil hier nun die Auseinandersetzung mit Gotik und Romanik als Stilen des Mittelalters im Zentrum standen. Mit diesem Kapitel betritt die Studie am deutlichsten Neuland, denn eine systematische Untersuchung der amerikanischen Sakralbaukunst "bezogen auf die Facetten der Mittelalterrezeption und ihr Verhältnis zum Staats- und Nationenverständnis" (278) fehlte bislang völlig.
Die Untersuchung macht mit aller wünschenswerten Klarheit deutlich, wie sich die beiden christlichen Religionsgemeinschaften mit ihren monumentalen Kirchenbauten in die Erinnerungs- und Identitätslandschaft der Hauptstadt einschreiben wollten. Beide Kirchen positionierten sich einerseits gegenüber der politischen Macht und konkurrierten zugleich untereinander um Deutungshoheit und Vormachtstellung. Insgesamt aber spielte in beiden Sakralbauprojekten ein idealisiertes Mittelalter als Höhepunkt christlicher Gesellschaft und als Kontrapunkt zu einer "als chaotisch empfundenen Alltagswelt in der Moderne" eine überragende Rolle (398).
In diesem Zusammenhang behauptete die Episkopalkirche, sich bewusst in die Kontinuität zur Anglikanischen Kirche stellend, einen Vorrang als Kirche der nationalen Einheit. Sie entschied sich beim Bau ihrer Kathedrale für den neogotischen Baustil, und zwar einerseits weil die christlichen Glaubensinhalte in ihm ihren höchsten baulichen Ausdruck gefunden hätten. Andererseits aber stellte die Gotik im Kontext Washingtons auch die Möglichkeit dar, sich von der klassizistischen Baukunst des säkularen Staates abzugrenzen und die Eigenständigkeit der Kirche als religiöser Institution zu behaupten.
Auch die römisch-katholische Basilica of the National Shrine of the Immaculate Conception wurde als ein "in Stein gefasstes religiöses wie patriotisches Bekenntnis zum Katholizismus in den USA" konzipiert und entworfen (350). Ihr romanisch-byzantinischer Stil ermöglichte einerseits die Abgrenzung zur Episkopalkirche und fügte andererseits den katholischen Kathedralbau harmonisch in die Architekturlandschaft der Hauptstadt ein. Angesichts der Dominanz des Protestantismus in den USA, war die Romanik für den lange Zeit überaus skeptisch beäugten römischen Katholizismus die Möglichkeit, einen Platz in der amerikanischen Demokratie für sich zu reklamieren, ohne den rein säkular belegten klassizistischen Stil zu kopieren.
Insgesamt leistet diese quellengesättigte, sauber gearbeitete und ungemein anregende Studie einen profunden Beitrag zu den in neuester Zeit wieder aufgelebten Debatten über kulturellen Nationalismus der USA. Es wird deutlich, dass der "Battle of the Styles" nicht nur ein Kampf um Stiltraditionen, sondern auch ein Ringen um nationale Identität war. Besonders aufschlussreich ist es in diesem Zusammenhang von Anna Minta zu erfahren, welche Pläne für bestimmte Staatsbauten entworfen und dann nicht verwirklicht wurden - und warum dies so war. Erkennbar wird zudem, dass das Alte Europa bis um 1900 die Referenzgröße für das Bemühen um einen nationalen Stil der USA blieb.
Volker Depkat