Ansgar Schanbacher: Kartoffelkrankheit und Nahrungskrise in Nordwestdeutschland 1845-1848 (= Veröffentlichungen der historischen Kommission für Niedersachsen und Bremen; Bd. 287), Göttingen: Wallstein 2016, 503 S., 25 s/w-Abb., 9 Ktn., ISBN 978-3-8353-1961-5, EUR 42,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Brage Bei der Wieden / Martin Fimpel / Isabelle Guerreau et al. (Bearb.): Hof und Regierungspraxis im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel 1735. Quellenedition, Braunschweig: Appelhans Verlag 2020
Axel Kuhn / Jörg Schweigard: Freiheit oder Tod. Die deutsche Studentenbewegung zur Zeit der Französischen Revolution, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2005
Marian Füssel: Gelehrtenkultur als symbolische Praxis. Rang, Ritual und Konflikt an der Universität der Frühen Neuzeit, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 2006
Die vorliegende Arbeit ist als Dissertation im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs "Interdisziplinäre Umweltgeschichte" an der Universität Göttingen entstanden und wurde von Prof. Dr. Arnd Reitmeier und Prof. Dr. Manfred Jakubowski-Tiessen betreut. Der Verfasser Ansgar Schanbacher befasst sich mit einer Zeit, in der "Nahrungsmittel aus strukturellen Gründen stets knapp waren und Naturereignisse die Versorgungslage großer Teile der Bevölkerung Mitteleuropas mit bezahlbaren Lebensmitteln schnell aus dem Gleichgewicht bringen konnten" (9). Ein Zustand, den Europa erst vor 150 Jahren überwand und der doch heute unendlich fern scheint. In Deutschland führte die Kartoffelkrankheit zu einer Krise, nicht zu einer Katastrophe (wie in Irland). Diese Zeit der Kartoffelkrankheit war in Deutschland die letzte Krise "alten Typs", bei der eine Missernte Preissteigerung, Hunger und Nachfragerückgang auslöste.
Schanbacher gliedert seine Arbeit in vier große Teile: Eine "Einleitung" (10-73) befasst sich nach den methodischen Prämissen mit der Situation in Nordwestdeutschland um 1845 und der Kartoffelkrankheit im Allgemeinen und in Europa. Im zweiten Teil (74-174) widmet er sich der Ausbreitung und Wahrnehmung der Kartoffelkrankheit in Nordwestdeutschland, ihrer Deutung und der staatlichen und wissenschaftlichen Reaktionen darauf. Im dritten Teil (175-393) geht es um die mit der Kartoffelkrise zusammenhängende Nahrungskrise 1846/47 und zuletzt (394-435) werden einige regionale Fallbeispiele (Osnabrück, St. Andreasberg, Uslar) und die Verbindungen mit der Revolution von 1848/49 untersucht.
Die aus Lateinamerika stammende Kartoffel ist durch ihren hohen Nährstoffgehalt ein ideales Grundnahrungsmittel. Sie erreichte um 1600 Niedersachsen, wurde aber zunächst eher vereinzelt als Gartenpflanze genutzt. Erst die Nahrungskrise um 1770 führte zu einer Verbreitung des Anbaus, um 1800 galt die Kartoffel als Hauptnahrungsmittel der ärmeren Leute, Mitte der 1840er Jahre bereits als "unentbehrlich".
Schanbacher betrachtet Entstehung und Verlauf der Kartoffelkrankheit als Mensch-Umwelt-Interaktion, mit dem Instrumentarium der historischen Hungerforschung analysiert er "Vulnerabilität und Resilienz verschiedener sozialer Gruppen oder Regionen" (17f.). Seine beeindruckend umfangreiche und vielfältige Quellengrundlage bilden vor allem staatliche Akten sowie Zeitungen und Zeitschriften, in geringerem Umfang zeitgenössische Fachpublikationen und angesichts der Überlieferungslage am Rande auch privates Erinnerungsschriftgut und Sachquellen. Angesichts des Materialreichtums ist der Ortsindex ebenso nützlich wie unentbehrlich.
Der Auslöser der Kartoffelkrankheit, ein Pilz namens Phytophthora infestans beschäftigt noch heute Landwirte und Agrarwissenschaftler, damals war man zunächst machtlos dagegen. Die Kartoffelkrankheit breitete sich ab Juni 1845 von Belgien aus. Dort wurden bis zu 95 Prozent der Ernten zerstört. In Norddeutschland erfuhr die Öffentlichkeit aus den Zeitungen zunächst von der Kartoffelfäule in umliegenden Ländern, bevor Anfang September 1845 erste Nachrichten über das Auftreten der Kartoffelfäule im Umland von Hannover erschienen. Schanbacher bemüht sich mit einer Fülle von teils übergreifenden, teils örtlichen Angaben, den Krankheitsbefall und die Ernteausfälle möglichst genau zu erfassen, auch in einer kartografischen Darstellung. Das ist aber nur begrenzt möglich, wenn Erntemengen meist nur relativ ("schlechter als letztes Jahr") oder subjektiv eingeschätzt wurden (82).
Besonders von Ernteausfällen waren die Marschgebiete, die Fürstentümer Osnabrück, Grubenhagen und Göttingen betroffen. 1846 fielen in den Marschgebieten zwei Drittel der Ernte aus, in den südlichen Gebieten schädigte eher Trockenheit die Ernte. Die Reaktion des Staates konzentrierte sich auf den Zustand der eingelagerten Kartoffeln und die Bereitstellung gesunder Pflanzkartoffeln, die Ämter lehnten auch in der Krise eine Verantwortung für die Bereitstellung von Saatgut ab. Groß war das Interesse der Landwirtschaftsvereine für die Kartoffel und die Kartoffelkrankheit, sie spielten bei der Suche nach Erklärungen und Abhilfe eine wesentliche Rolle. Bis 1861 wurde der Ablauf der Pilzerkrankung geklärt, 20 Jahre später ein geeignetes Fungizid gefunden. Zu einer Nahrungskrise führte die Kartoffelmissernte in Niedersachsen 1845 noch nicht, da genügend Vorräte und andere Ressourcen vorhanden waren, doch die Erträge der Kartoffeln reduzierten sich 1846, zudem fiel die Roggenernte in Niedersachsen schlecht aus. So entstand die Subsistenzkrise von 1846/47, die keine reine Kartoffelkrise war.
Detailliert untersucht Schanbacher die Strukturen des Handels. Aufkäufe aus dem entfernten Hamburg führten zu Preiserhöhungen, die besonders den importabhängigen Harz trafen. Bei den Ärmsten verschob sich die Ernährungsweise, Bettelei und Kriminalität stiegen an, verhältnismäßig selten gab es Tumulte und Proteste. Auf die Zahl der Auswanderer hatte die Krise zunächst einen negativen Effekt, die Menschen hatten nicht mehr die Mittel zum Auswandern. Statistisch verwertbare Aussagen über Todesopfer in der Hungerkrise gibt es nicht. Allerdings gibt es in den Jahren 1846/47 einen Höhepunkt in der Zahl der Todesfälle, entsprechend kam es zu einem Rückgang der Geburten und Eheschließungen. Der Notstand kann als Auslöser für die folgenden Auswanderungswellen betrachtet werden.
Am Beispiel der Kartoffelkrise macht Schanbacher auch allgemeine Aussagen über Verwaltungskommunikation. Das Nachrichtenwesen ermöglichte bei Bedarf eine schnelle Kommunikation zwischen den Behörden und mit der nichtstaatlichen Sphäre. Die oberen Behörden Nordwestdeutschlands hielten Eingriffe des Staates nur für das äußerste Mittel, die Not einzudämmen. Schon im Winter 1845/46 wurden als Reaktion auf die Missernte öffentliche Arbeiten vor Ort durchgeführt, vor allem Wegebau und -verbesserung. Zu den getroffenen Maßnahmen gehörte die Versorgung mit Pflanzkartoffeln und die Zahlung von Notstandsgeldern, Getreidehilfe, Erleichterung von Lebensmittelimporten, Diskussion über ein Verbot der Branntweinherstellung. Das "Zusammenspiel von Zivilgesellschaft und Staat" (357f.) verhinderte in Niedersachsen eine ausgedehnte Hungersnot und größere Unruhen. Der Zusammenhang zwischen der Nahrungskrise und der Revolution von 1848/49 erweist sich als gering. Vielleicht hat die gute Getreideernte von 1847 mäßigend gewirkt. Die revolutionären Ereignisse in Norddeutschland hatten andere Ursachen und wurden eher von außen angestoßen.
Insgesamt stellten Kartoffelkrankheit und -krise in Deutschland keinen so tiefen Einschnitt dar wie etwa in Irland, und sie haben auch in der kollektiven Erinnerung keine so tiefen Spuren hinterlassen. Den Regierungen Nordwestdeutschlands gelang es mit relativ geringen Mitteln, Hungersnöte und Unruhen zu vermeiden. Interessant wäre der vom Autor vorgeschlagene Vergleich dieser Krise mit anderen Agrarkrisen sowie mit dem genauen Ablauf der Kartoffelkrise in anderen Territorien.
Schanbacher hat sein Material gut aufbereitet und zu einer detailreichen und dennoch angenehm lesbaren Darstellung verarbeitet, deren abgewogene Ergebnisse er immer wieder in kleinen "Fazits" zusammenfasst. Die Historische Kommission für Niedersachsen und Bremen hatte gute Gründe, als sie diese Arbeit 2016 mit dem Niedersächsischen Preis für Landesgeschichte auszeichnete.
Stefan Brüdermann