Brage Bei der Wieden / Martin Fimpel / Isabelle Guerreau et al. (Bearb.): Hof und Regierungspraxis im Fürstentum Braunschweig-Wolfenbüttel 1735. Quellenedition, Braunschweig: Appelhans Verlag 2020, 605 S., ISBN 978-3-944939-39-1, EUR 38,00
Inhaltsverzeichnis dieses Buches
Buch im KVK suchen
Bitte geben Sie beim Zitieren dieser Rezension die exakte URL und das Datum Ihres Besuchs dieser Online-Adresse an.
Sandra Salomo: Die Ökonomie des knappen Geldes. Studentische Schulden in Jena 1770-1830, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2016
Axel Kuhn / Jörg Schweigard: Freiheit oder Tod. Die deutsche Studentenbewegung zur Zeit der Französischen Revolution, Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2005
Ansgar Schanbacher: Kartoffelkrankheit und Nahrungskrise in Nordwestdeutschland 1845-1848, Göttingen: Wallstein 2016
Die vorliegende Quellenedition ist das Gemeinschaftswerk der Archivarinnen und Archivare der Abteilung Wolfenbüttel des Niedersächsischen Landesarchivs. Ihre Absicht war, "aus den Beständen des Wolfenbütteler Archivs eine relevante Forschungsfrage zur frühneuzeitlichen Geschichte zu bearbeiteten" (7). Um welche Forschungsfrage es sich handelt, wird in der Einleitung allerdings nicht explizit benannt, sondern allenfalls angedeutet: "Was bewirkte und bestimmte den Wandel in Politik und Verwaltung? Wie differenzierten sich die entsprechenden gesellschaftlichen Subsysteme aus?" (7).
Dabei rücken Staat, Regierung und fürstliche Herrschaft - in dieser Zeit kaum zu trennen - gemeinsam in den Blickpunkt. Unter dem Stichwort "Mikrogeschichte" wurde dabei auf eine "Einheit von überschaubarer Größe" (7) fokussiert und als "Schnitt" ein Kalenderjahr ausgewählt. Gesucht wurde nach einem Jahr der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, das keine extremen Bedingungen wie etwa Krieg aufwies. Dabei fiel die Wahl auf das Jahr 1735, weil hier aufgrund zweier Herrscherwechsel "das Bestehende festgestellt und geprüft werden musste und Neuerungen eine Begründung erfuhren" (8). Denn am 1. März 1735 starb der seit 1731 regierende Herzog Ludwig Rudolf, ihm folgte in der Regierung Ferdinand Albrecht II. aus der Nebenlinie Braunschweig-Bevern. Er starb überraschend bereits am 1. September 1735, es folgte sein Sohn Karl I., der bis 1780 die Regentschaft innehatte.
Dieses Vorgehen ist durchaus innovativ. Gängig sind Quellensammlungen zu bestimmten Institutionen, mit dem bekannten Spezialfall des Urkundenbuchs, zu Personen oder Personengruppen, zu Regionen, zu längeren Zeitabschnitten/Epochen oder Themen. Ein einzelnes Jahr, das ist als "Epochenjahr" zwar als Buchtitel nicht ungewöhnlich (z.B. 1517, 1913, 1923 ...) [1], als Auswahlkriterium für eine historische Quellensammlung erscheint es hingegen neuartig, der Rezensent weiß von keinem vergleichbaren Projekt.
Der hier zu besprechende Quellenband stellt die Vorstufe der Auswertung dar, die in einem zweiten Band erfolgen soll. Ziel der Bearbeiter war es, "die Überlieferung und ihre Charakteristika deutlicher zu machen und auf diese Weise einen Beitrag zur Quellenkunde zu leisten," (8) dabei wurde die Bearbeitung aus arbeitsökonomischen Gründen auf die höchste Ebene mit Politik, Verwaltung und Hof beschränkt.
Die Quellen auf gut 500 Druckseiten werden in acht unterschiedlich gewichteten thematischen Kapiteln dargeboten: 1. Gesetze, Verordnungen, Reskripte (30 S.), 2. Protokolle, Registereinträge (65 S.), 3. Denkschriften, Gutachten, Vermerke (15 S.), 4. Rechnungen (150 S.), 5. Verzeichnisse, Inventare (50 S.), 6. Korrespondenz (65 S.), 7. Tagebücher (110 S.), 8. Publizistik (20 S.). Insgesamt sind es 39 verschiedene Dokumente.
Zu Beginn der Kapitel werden die jeweiligen Dokumente quellenkundlich summarisch kurz eingeordnet, mit Blick auf ihre allgemeinen Eigenschaften als Quellengattung und mit einer knappen Begründung der Auswahl. Ein Anspruch auf Vollständigkeit wird dabei nicht erhoben, die "Auswahl leitete die Wertungen der Bearbeiter/innen" (13). Die einzelnen Quellentexte werden mit einem kurzen Vorspann eingeleitet, der meist nur die Aktensignatur, den Quellenzusammenhang und eventuell den Druckort festhält. Manchmal aber wird die Quelle auch ausführlicher eingeordnet und erläutert, wie etwa das "Journal der Campagne 1735" (420-510). Die Unterschiede sind den einzelnen Bearbeiter/inne/n geschuldet (14). Während meist die Quellen im Volltext (zum Teil mit Kürzungen) abgedruckt werden, findet sich z.B. unter 1.10 (32-44) ein Nachweis von Verordnungen des Landesherrn und der fürstlichen Kollegien, also nur eine Auflistung.
Eines der großen Verdienste dieses Werkes liegt in der Zusammenstellung höchst unterschiedlicher Quellen im historischen Zeitraum eines Jahres. Da sind unter den normativen Quellen die erwartbaren Anordnungen zur Einrichtung der Kollegien, Abgrenzung der Geschäftsbereiche, zur Besetzung des Geheimen Rates, zur Rangordnung, oder zum Trauergeläut, aber auch ein Schriftwechsel zur Entlassung des Etatrates von Lüdecke (Kap. 1, 16-48). Bedenkt man die Bedeutung normativer Texte für die Geschichtsforschung, ist die Sparsamkeit gerade hier doch erstaunlich. Unter den Protokollen und Registern (Kap. 2, 49-116) werden auch die Kirchenbücher der Schlosskirchengemeinde Wolfenbüttel für das Jahr 1735 abgedruckt, aus denen man, durch die Nennung von Taufpaten, auch einiges über personelle Verflechtungen am Hof erfährt. Die Denkschriften (Kap. 3, 117-131) befassen sich mit zentralen Fragen der Staatsverwaltung. Auf über 140 Seiten wird die Kammerrechnung 1735/36 dargeboten (133-278), als die zentrale Aufzeichnung über Einnahmen und Ausgaben des Fürstentums. Das "Inventar des herzoglichen Marstalls" (327-332) verzeichnet Personal, Pferde, Sättel sowie Kutschen und Wagen. Für den Abdruck der Briefe der Herzogin Philippine Charlotte an ihren Vater, König Friedrich Wilhelm I. in Preußen, wird auch über das ohnehin reichhaltige Wolfenbütteler Archiv hinausgegriffen, denn diese Briefe befinden sich im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz.
Die Dokumente werden von reichhaltigen Anmerkungen erläutert, die vor allem die erwähnten Personen verifizieren und zuweilen auf weitere Akten verweisen. Sparsamer ist die Erläuterung von zeitgebundenen Termini. Abgeschlossen wird der Band von einem Literaturverzeichnis sowie Indizes der Orte, Personen und Sachen (zusammen 70 Seiten).
Man darf gespannt auf den Folgeband und seine Auswertung der hier vorgelegten Quellen sein. Unabhängig davon liegt aber schon jetzt ein großer Gewinn in der Anschauung vieler sehr unterschiedlicher Quellen, die auf diese Weise zugänglich gemacht werden und zu ganz unterschiedlichen Fragestellungen einladen.
Anmerkung:
[1] Etwa Heinz Schilling: 1517. Weltgeschichte eines Jahres, München 2017; Florian Illies: 1913. Der Sommer des Jahrhunderts, Frankfurt 2014; Volker Ullrich: 1923. Das Jahr am Abgrund, München 2022.
Stefan Brüdermann