Claudia Schneider: Als Deutsche unter Deutschen? Übersiedlungen aus der Volksrepublik Polen in die DDR 1964-1987, Halle/Saale: mdv Mitteldeutscher Verlag 2015, 352 S., ISBN 978-3-95462-345-7, EUR 39,95
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Claudia Schneider erforscht in ihrer Dissertation unter Rückgriff auf die historische Migrationsforschung ein randständiges Phänomen: Die Übersiedlung von ca. 35.000 Deutschen aus Polen in die DDR von 1964 bis 1987. Diese Migrationsbewegung ist vor allem deshalb interessant, weil ihre Strukturen und Motive staatssozialistischen Regeln nicht entsprachen. Vielmehr wichen eigensinnige Interessen in Politik und Gesellschaft von der herrschenden Ideologie ab, und erst die Überwindung von ideologischen und bilateralen Hürden führte zu leidlichen Lösungen. Damit scheinen in der Arbeit immer wieder komplexe Zusammenhänge auf, die tiefe Einblicke in die Funktionsweise der DDR und Polens erlauben.
Die Autorin arbeitet überzeugend heraus, dass die DDR bei der Aufnahme von polnischen Staatsbürgern, die eine deutsche Herkunft nachweisen konnten, in erster Linie ihren Arbeitskräftebedarf decken wollte. Als Anwalt einer deutschen Minderheit in Polen sah sie sich keineswegs. Dabei waren es in erster Linie die latente sozioökonomische Diskriminierung und ein vergleichsweise schlechter Lebensstandard der die "Autochthonen" - wie die volkspolnische Administration die in deutsch-polnischen Mischgebieten siedelnden Menschen verallgemeinernd und despektierlich nannte - zur Abwanderung bewegte.
Die dauerhafte Einwanderung von Arbeitskräften ohne deutsche Staatsbürgerschaft war in der Herrschaftslogik der DDR jedoch unerwünscht. Dies musste zwangsläufig zu Konflikten und Problemen führen. Außenpolitisch waren die ostdeutsch-polnischen Beziehungen unter Walter Ulbricht und Władysław Gomułka trotz bruderstaatlicher Propaganda unterkühlt. Außerdem wollte man über etwas verhandeln, was es ideologisch auf beiden Seiten der sogenannten Friedensgrenze nicht gab: polnische Staatsbürger deutscher Herkunft, die auf Gebieten siedelten, die bis 1945 zum Deutschen Reich gehört hatten. Die DDR wollte diesen noch vor der Übersiedlung die DDR-Staatsbürgerschaft verleihen; ein diplomatisches Husarenstück, das Polen nicht akzeptieren konnte. Galten dort die "Autochthonen" doch nicht als Deutsche, sondern als historische Siedler, die unter deutschem Einfluss geraten waren. Unter anderem an dieser Frage scheiterte 1964 eine erste, schlecht vorbereitete Initiative der DDR.
Mit einer zweiten Direktive vom September 1965 wurde das Verfahren wesentlich bürokratischer und langwieriger, dafür aber praxistauglich. Während das Außenministerium der DDR mit dem ersten Modell gescheitert war, gingen die Kompetenzen nun wieder an das Innenministerium über. Innenpolitisch war die Bereitstellung eines Arbeitsplatzes und eines Wohnortes in der DDR Bedingung für die Übersiedlung. Dies führte zu Schwierigkeiten, denen die Planwirtschaft nicht gewachsen war. Bezeichnend war beispielsweise, dass die Wohnungsvergabe an Übersiedler gegenüber der um Wohnraum konkurrierenden DDR-Bevölkerung verheimlicht werden sollte. Trotzdem war die Übersiedlungsaktion in der zweiten Hälfte der 1960er Jahre mit fast 21.600 Migranten vergleichsweise erfolgreich.
In den 1970er und 1980er Jahren ergaben sich weitere Probleme. Die Polenpolitik der Bundesrepublik seit Ende der 1960er degradierte die DDR zunehmend zum "Zuschauer" (205). Polnische Behörden behaupteten zwar weiterhin, die Migration in die DDR gegenüber jener in die Bundesrepublik zu bevorzugen. Die absoluten Zahlen zeigen aber, dass die Migranten freie Marktwirtschaft und Demokratie der Einheit von Wirtschafts- und Sozialpolitik vorzogen. Folgt man Schneiders leider etwas unübersichtlichen Zahlen, so wanderten allein von 1965 bis Ende der 1970er Jahre ca. 230.000 Deutschstämmige in die Bundesrepublik aus. Mit der Entstehung der Solidarność in Polen war der DDR in den 1980er Jahren nicht an weiteren Übersiedlungen gelegen. 1987 wurde das Abkommen von 1965 endgültig aufgekündigt.
Für die 1970er und 1980er Jahre galt zusätzlich, dass viele Migranten als Ehepartner von DDR-Bürgern in die DDR kamen. Für sie, die zumeist keine deutsche Herkunft nachweisen konnten, wurden die gleichen Bestimmungen wie vorher für die Übersiedler übernommen. Überdies wurde die Arbeitskraft der Übersiedler zunehmend durch Vertragsarbeiter ersetzt, deren Integration nicht von langfristigen Faktoren abhängig war.
Der Integration, zeitgenössisch "Eingliederung" genannt, widmet Schneider leider nur ein Viertel ihres Textes. Denn besonders im Arbeits- und Wohnumfeld zeigte sich, dass staatliche und individuelle Motive nicht immer in Einklang zu bringen waren. Während bei Migranten die Hoffnung auf einen höheren Lebensstandard das wichtigste Motiv darstellte, ging es der DDR um volkswirtschaftliche Ziele. So funktionierte die Integration in der Montan- und Stahlindustrie für männliche Migranten durchaus, Migrationsbewegungen in ländliche Regionen waren problematischer. Unerfüllte Erwartungen an das Berufsleben in der Agrarproduktion potenzierten das allgemein schwelende Problem fehlenden Wohnraums. Viele Migranten mussten anfangs in Provisorien untergebracht werden oder waren mit den zur Verfügung gestellten Wohnungen unzufrieden. Konflikte mit Behörden und eigensinniges Weiterziehen waren die Folge. Die Neuankömmlinge bemühten sich offenbar trotzdem, als Deutsche unter Deutschen zu leben. Beim Wunsch zur Ausreise oder der Wahl des Wohnortes spielten familiäre und kollegiale Netzwerke zu anderen Migranten aus Polen zwar durchaus eine Rolle, und auch vor Ort konnte man sich am Dialekt oder der katholischen Gemeindezugehörigkeit erkennen. Insgesamt verlief die Integration jedoch verhältnismäßig reibungslos.
Durch eine Lokalstudie zu Riesa mit insgesamt sieben Interviews mit Migranten differenziert und ergänzt Schneider ihre Befunde aus Archivdokumenten. Es ist schade, dass sie diese Quellen eher nacherzählend referiert und die Protagonisten kaum selbst zu Wort kommen. So sind die Ergebnisse zwar interessant, aber atmosphärisch bleibt der mikrohistorische Ansatz diffus und farblos. Man wünscht sich, die Lebenswelten der Migranten hätten eine größere Rolle in der Untersuchung eingenommen. So erfährt der Leser viel zu sozial- und politikgeschichtlichen Hintergründen; erfahrungsgeschichtliche Ansätze findet er weniger.
Es bleibt festzuhalten, dass Schneider der Entstehung des bilateralen Abkommens zur Übersiedlung der Deutschen aus Polen etwas zu viel Raum einräumt - zuungunsten der eigentlichen Migration und Integration. Die Schlusssentenz, dass es an der Zeit sei, die Ergebnisse der Studie jenseits der "erfolgten lokalgeschichtlichen Untersuchung" insbesondere um eine Geschichte der "'frühen' Aussiedler in der Bundesrepublik" (322) zu ergänzen, erscheint noch verfrüht. Nach der Lektüre von "Als Deutsche unter Deutschen" bieten sich ebenso Vergleiche und Bezüge innerhalb der DDR an. Dabei können zukünftige Forscher guten Gewissens auf Schneiders Untersuchung aufbauen.
Daniel Logemann