Wolfgang Hölscher / Paul Kraatz (Bearb.): Die Grünen im Bundestag. Sitzungsprotokolle und Anlagen 1987 bis 1990 (= Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien. Vierte Reihe: Deutschland seit 1945; Bd. 14/II), Düsseldorf: Droste 2015, 2 Bde., 1529 S., 1 CD-ROM, ISBN 978-3-7700-5329-2, EUR 160,00
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Für die Fraktionssitzung am 17. Juni 1987 legte der Bundestagsabgeordnete der Grünen Wilhelm Knabe ein ausführliches Positionspapier vor, in dem er darlegte, wie grüne Deutschlandpolitik seiner Meinung nach auszusehen habe. Am Ende dieses Papiers warb er mit Nachdruck für eine offene und konstruktive Diskussion: "Bis zum Beweis des Gegenteils sind die anderen Grünen zunächst einmal Menschen, mit denen Mensch reden und zusammenarbeiten kann." (142f.) Sowohl die Forderung nach Zusammenarbeit als auch die Schärfe, mit der sie vorgetragen wurde, waren typisch für die Situation der Bundestagsfraktion der Grünen zwischen 1987 und 1990.
Die in der Reihe "Quellen zur Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien" erschienene Edition der Protokolle der Grünen-Bundestagsfraktion während der elften Legislaturperiode offenbart das Innenleben und die Arbeitsweise der Fraktion. Die Edition umfasst neben den 131 Sitzungsprotokollen auch die 172 Protokolle der Fraktionsvorstandssitzungen, die auf einer CD-ROM beigefügt sind. Darüber hinaus sind zahlreiche Dokumente - wie das oben erwähnte Positionspapier -, Zeitungsartikel, Pressemitteilungen oder Schreiben einzelner Fraktionsmitglieder abgedruckt.
Die Fraktion der Grünen unterschied sich hinsichtlich ihrer Alters- und Sozialstruktur deutlich von den anderen Fraktionen des Bundestags. Während der Frauenanteil insgesamt gerade einmal 15,4 Prozent betrug, waren die Frauen bei den Grünen in der Mehrheit: 25 der 44 Abgeordneten waren weiblichen Geschlechts. Die Abgeordneten der Grünen waren auch deutlich jünger als ihre Kollegen; nicht zuletzt deshalb hatten sie bis zu ihrer Wahl kaum Erfahrung in der parlamentarischen Arbeit gesammelt.
Neben der fehlenden Erfahrung erschwerten in den 1980er Jahren vor allem die Flügelkämpfe in der Partei sowie die Führungskämpfe zwischen Bundesvorstand und Fraktion die Arbeit der Abgeordneten. Den Höhepunkt bildeten die Auseinandersetzungen zwischen Fundamentalisten und Realpolitikern 1987/88. Die Herausgeber der Edition schildern in ihrer aufschlussreichen Einleitung, wie mit der Zuspitzung der Konflikte auch die Polarisierung in der Fraktion zunahm. Die Protokolle dokumentieren anschaulich, wie sich das Arbeitsklima stetig verschlechterte. Gertrud Schilling beklagte etwa während einer Fraktionsklausur im September 1987 die mangelnde Teamfähigkeit der Fraktion und ergänzte, "sie fühle sich wie in einem Umerziehungslager, in dem alle Ecken und Kanten abgeschliffen werden sollten" (168). Besonders interessante Einblicke gewähren vier Tonbandabschriften, die die Bearbeiter der Edition hinzugefügt haben. An diesen Transkripten zeigen sich die Diskussionskultur der Fraktion und der zum Teil schroffe Umgang der Abgeordneten miteinander in aller Deutlichkeit. Gemeinsames Arbeiten wurde immer schwieriger. Über beinahe jeden Vorgang musste abgestimmt werden. Die knappen Ergebnisse verdeutlichen die fraktionsinternen Spannungen. Der Parlamentarische Geschäftsführer der Fraktion, Hubert Kleinert, kritisierte während der Fraktionssitzung am 2. Juni 1987, dass die Fraktion bereits gefasste Beschlüsse wieder revidiere: "Die Planung und Organisation ist so nicht durchführbar." (119)
Die Protokolle sind hinsichtlich ihrer Ausführlichkeit und Aussagekraft sehr unterschiedlich. Verlaufsprotokolle wurden vor allem in der ersten Hälfte der Legislaturperiode angefertigt. Für die Zeit seit Oktober 1988 liegen in der Regel nur noch Ergebnisprotokolle vor, die zum Teil recht dürftige Informationen bieten. Bei den Protokollen der Vorstandssitzungen handelt es sich durchweg um Ergebnisprotokolle. Wesentlich informativer sind die verschiedenen Anlagen, die die Bearbeiter den Protokollen hinzugefügt haben. Es sind in erster Linie Schriftstücke, in denen die Abgeordneten ihren Standpunkt ausführlich darlegten und über die dann in den Sitzungen diskutiert wurde. Die Bearbeiter haben die Protokolle ausführlich kommentiert. In den Fußnoten erläutern sie nicht nur Sachverhalte, sie verweisen auch auf die Vorgänge im Bundestag, auf die sie sich beziehen. Anlagen und Kommentierung erleichtern es dem Leser erheblich, die innerfraktionellen Debatten zu verstehen und sie in einen größeren politischen Kontext einzuordnen.
Ein Blick auf die Inhalte zeigt, dass die Grünen sich mit einer sehr breiten Themenpalette beschäftigten. Manche Abgeordneten beklagten daher, dass die für die grüne Partei besonders wichtige und identitätsstiftende Umweltpolitik vernachlässigt würde. Dass die Fraktion intensiv über die Folgen der Gentechnologie diskutierte, bedarf kaum der Erklärung. Überraschend dagegen ist, wie viel Zeit und Engagement die Grünen der Arbeitsmarkt- und Sozialpolitik widmeten. Auch die welt- und deutschlandpolitischen Umbrüche gingen nicht spurlos an den Grünen vorbei. Kontrovers diskutierte die Fraktion Gorbatschows Reformpolitik, wobei sie besonders seine Abrüstungsbemühungen unterstütze. In ihrer Deutschlandpolitik hielt die Fraktion bis in das Jahr 1990 an der Zwei-Staaten-Lösung fest. In der DDR sollten aber innere Reformen gefördert und demokratische Strukturen aufgebaut werden. Die ausführlichen Diskussionen Jahres 1990 zeigen, dass sich die Grünen dennoch mit dem Zusammenbruch der DDR und den mit der Wiedervereinigung verbundenen Fragen beschäftigt haben. Die Niederlage bei der ersten gesamtdeutschen Wahl und das Ausscheiden aus dem Bundestag war dann allerdings darauf zurückzuführen, dass ihre Konzepte in der Bevölkerung wenig Zustimmung fanden.
Die vorliegende Edition dokumentiert somit nicht nur die parlamentarische Arbeit der Fraktion. Mit ihr liegt vielmehr ein Quellenwerk vor, das tiefe Einblicke in die Geschichte der Grünen in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre erlaubt und es dadurch ermöglicht, sich ein genaueres Bild von den innerparteilichen Konflikten zu machen. Schließlich bietet sie auch dem Historiker, der sich mit den gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen der 1980er Jahre befasst, reichlich Material.
Richard Büttner