Rezension über:

Franka Maubach / Christina Morina (Hgg.): Das 20. Jahrhundert erzählen. Zeiterfahrung und Zeiterforschung im geteilten Deutschland (= Beiträge zur Geschichte des 20. Jahrhunderts; Bd. 21), Göttingen: Wallstein 2016, 508 S., 11 s/w-Abb., ISBN 978-3-8353-1707-9, EUR 42,00
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Rezension von:
Matthias Middell
Leipzig
Redaktionelle Betreuung:
Dierk Hoffmann / Hermann Wentker im Auftrag der Redaktion der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte
Empfohlene Zitierweise:
Matthias Middell: Rezension von: Franka Maubach / Christina Morina (Hgg.): Das 20. Jahrhundert erzählen. Zeiterfahrung und Zeiterforschung im geteilten Deutschland, Göttingen: Wallstein 2016, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 7/8 [15.07.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/07/29584.html


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Franka Maubach / Christina Morina (Hgg.): Das 20. Jahrhundert erzählen

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Den Abschluss des vorliegenden Bandes bildet eine dichte Beschreibung der Historikerkommunikation im Umbruchsdeutschland zwischen September 1989 und Herbst 1990 von Krijn Thijs, der noch einmal an die Sprachlosigkeit vieler ostdeutscher Historiker, den zornigen Aufschrei des Unabhängigen Historikerverbandes (UHV) und die Gewissensbisse einiger als Schiedsrichter eingeladener westdeutscher Historiker erinnert. Mit feiner Ironie zeichnet der niederländische Historiker die Dramatik der Entwicklung nach, die ein ganzes Bündel von Fragen aufgeworfen und in gewisser Weise unbeantwortet gelassen hat: In welchem Verhältnis stand die unzweifelhaft revolutionäre Situation, zu der der Tabubruch notwendigerweise gehört, zur Tatsache, dass keineswegs das ganze (kurz vor der Vereinigung stehende) Land, sondern nur dessen östliche Hälfte erschüttert war? Thijs beschreibt ein Dreieck, in dem die sogenannten jungen Wilden um Stefan Wolle und Armin Mitter das Establishment der DDR-Historikerschaft offen und bewusst verletzend angriffen in dem Bestreben, selbst die Macht über Deutung und Institutionen zu übernehmen, während an die zunächst zögerlichen westdeutschen Kollegen appelliert wurde, im Streit zu entscheiden oder zu schlichten. Ihnen fiel deshalb alsbald die Rolle des unangreifbaren Richters zu, der Evaluierungskommissionen vorstand und Berufungen steuerte. Übrigens mit dem nicht unbedingt zu erwartenden und von Thijs fast süffisant vorgetragenen Ergebnis, dass die Vertreter des UHV mit wenigen Ausnahmen zwar sehr erfolgreiche Publizisten wurden, in der Hierarchie der akademischen Geschichtswissenschaft aber kaum die erhofften herausgehobenen Positionen erreichten.

Von hier aus ließe sich nun die Geschichte der von Jürgen Kocka früh diagnostizierten Vereinigungskrise noch einmal schreiben, doch der Beitrag von Thijs steht nicht zufällig am Ende dieses Bandes, dessen Herausgeberinnen anderes vorhaben. Sie wollen einen neuen Blick auf die Vorgeschichte dieses Vereinigungsmoments versuchen und bedienen sich dabei des von Christoph Kleßmann vorgeschlagenen Theorems der asymmetrisch verflochtenen Geschichte beider deutscher Gesellschaften während der Phase des Kalten Krieges. Verflochten seien dabei die beiden Gesellschaften nicht nur durch eine deutsche Vergangenheit, die sie konkurrierend deuteten und beanspruchten, sondern auch und vielleicht vor allem durch die wechselseitige Beobachtung und Reaktion aufeinander. Asymmetrisch ist diese Verflechtung, weil sie für die Ostdeutschen viel präsenter und existentieller gewesen sei als für ihre westdeutschen Nachbarn, deren Westintegration viele andere Anknüpfungspunkte bot.

Diese Asymmetrie fällt natürlich besonders auf, wenn man sich - wie es der vorliegende Band fast ausschließlich tut - auf jene Ostdeutschen (Historiker) konzentriert, die ihre Berufstätigkeit und ihr politisches Engagement der Deutung deutscher Zeitgeschichte widmeten. Sie hatten zwar auch amerikanische, französische oder britische Beiträge zur Deutung der Geschichte des 20. Jahrhunderts ins Auge zu fassen. Aber Historikern, die so wenig in der Lage waren zwischen Geschichtsforschung und Geschichtspolitik zu unterscheiden (oder sich zu unterscheiden verboten), wie es oft bei den prominentesten DDR-Zeithistorikern der Fall war, musste als entscheidendes Pendant der Kollege aus der Bundesrepublik erscheinen, hinter dem wahlweise der "Imperialismus" oder das "Großkapital" als Auftraggeber vermutet wurde.

Soweit die Modellvorstellung, die über viele Jahre zu der dominierenden Deutung geführt hat, dass die DDR-Historiografie sehr rasch ein komplettes Eigenleben geführt habe, mit separatem und inkommensurablem Wissenschaftsverständnis, dem weder die Vetomacht der Quellen noch der internationale Forschungsstand im Ernstfall viel gegolten hätten.

Die Jenaer Historikerinnen Franka Maubach und Christina Morina machen sich dagegen auf eine Entdeckungsreise zu den deutsch-deutschen Gesprächsversuchen. Gleich zu Beginn ihrer Einleitung müssen sie allerdings von einem Scheitern berichten. Ein Gemeinschaftswerk zur Verantwortung deutscher Eliten für den und im Zweiten Weltkrieg war im Januar 1989 am Einspruch der Abteilung Wissenschaften beim ZK der SED gescheitert. Die westdeutschen Beiträge erschienen jubiläumspünktlich 1989, die ostdeutschen erst im Sommer 1990, als sich die Koordinaten gänzlich verschoben hatten und keine ZK-Abteilung mehr existierte. Den Vorschlag von Ludwig Nestler, dem ehemaligen Leiter der DDR-Archivverwaltung, zur nachträglichen Gemeinschaftspublikation beantwortete Heinz Hürten in einem Rundschreiben an seine Kollegen ablehnend, der Kairos der Sache sei verflogen. Es bleibt unerörtert, ob man daraus primär Misstrauen gegenüber den ehemaligen Gesprächspartnern unter neuen politischen Vorzeichen lesen soll oder Misstrauen in die Qualität des nur unter Bedingungen des Kalten Krieges sinnvoll erscheinenden Bandes vermuten muss.

Das Buchprojekt war aber bekanntlich bei Weitem nicht das einzige deutsch-deutsche Kooperationsvorhaben, an dem Historiker maßgeblich beteiligt waren. Hierauf baut der Band auf, der den Fragen nachgeht, wie diese Zeithistoriker-Gespräche verliefen, welche Erfahrungen auf beiden Seiten dabei mobilisiert und gemacht wurden und ob sich aus der Resonanz, die doch zwischen beiden Gruppen zu beobachten sei, so etwas wie eine Chance auf wechselseitige Konstituierung ergeben habe. Matthew Stibbe behandelt den Ersten Weltkrieg und die "flüchtigen Allianzen", die insbesondere durch die Fischer-Kontroverse ausgelöst wurden. Diese reichten immerhin bis zum hohen Ansehen, das ein Historiker wie Fritz Klein zu diesem Thema über alle Abwicklungen hinweg national und international behielt. Klaus Latzel beschäftigt sich mit dem Streit um die Novemberrevolution, während Franka Maubach die Kontroverse um die Ursachen der Hitlerschen Machtübernahme 1933 nachgeht. Der Zweite Weltkrieg und der Holocaust werden von Christina Morina und Anette Leo behandelt, Christoph Kleßmann und Marion Detjen befassen sich dagegen mit dem Mauerbau und der deutschen Teilung als "realgeschichtliche[n] Hindernisse[n]" für eine Verständigung. Damit steht einerseits zwar das ganze 20. Jahrhundert zur Debatte, aber die Beiträge zeigen auch, wie blind die involvierten Historiker auf beiden Seiten zumeist gegenüber den welt- oder auch nur europageschichtlichen Rahmungen ihrer Gegenstände blieben, wenn wir von der Fischer-Kontroverse absehen. Es nimmt deshalb nicht wunder, dass Teilnehmer internationaler Tagungen die immer wieder ausbrechenden "querelles allemandes" mit wachsender Genervtheit über sich ergehen ließen. Asymmetrische Verflochtenheit implizierte doch ein erstaunlich hohes Maß an Selbstbezogenheit.

Allerdings boten sich auch weniger beobachtete Räume der internationalen Historikerkooperation, in denen auch die DDR-Historiker ihren empirisch grundierten Beitrag leisten konnten, ohne gleich die ganze Last der Legitimation ihres fragilen Staatswesens mittragen zu müssen. Doch das ist nicht das Thema des vorliegenden Bandes, der sich ganz und gar auf die Kontakte einiger führender deutscher Zeithistoriker aus West und Ost konzentriert. Dokumente, die reichlich herangezogen werden, zeigen für die ostdeutsche Seite häufig ein Bild der mühsam im Zaum gehaltenen Erosion (siehe etwa den Bericht Heinz Heitzers über die Tagung der DDR-Historiker-Gesellschaft in Sellin 1984, an der auch Christoph Kleßmann teilnahm). Aber sie wurde eben im Zaum gehalten, und Kleßmann folgert überzeugend für das von ihm vorgeschlagenen Konzept der asymmetrischen Verflochtenheit: "Zwar lassen sich auf vielen Themenfeldern dieser Gesamtgeschichte und auch der Historiografie wechselseitige Einflüsse sinnvoll verfolgen. Am wenigsten gilt dies jedoch für die politische besonders relevante Teildisziplin Zeitgeschichte, die anders als in der Bundesrepublik in der DDR-Definition erst mit dem Jahr 1945 begann [... Sie] erhielt damit eine besonders wichtige Legitimationsfunktion." (286)

Gegenüber dieser skeptischen Beurteilung zeigen die Beiträge dieses Bandes eine Zeitgeschichte, deren zeitlicher Rahmen deutlich weiter gezogen ist, deren räumlicher Einzugsbereich aber nationalgeschichtlich eng bleibt. Die Aufsätze demonstrieren darüber hinaus, dass dort, wo Polemik und scharfe Abgrenzung herrschten, die von den westdeutschen Zeitzeugen als unangenehme Gesprächsverweigerung empfunden wurde, durchaus Verflechtung zu finden ist, denn die Abgrenzungsrhetorik war gerade dort am schärfsten, wo die Gefahr politisch unliebsamer Nähe am größten erschien. So wird eine Trennlinie sichtbar, die nicht entlang von Werra und Elbe verlief: Den einen war solche Nähe intellektuelle Herausforderung zum Weiterforschen, den anderen letzter Grund, um sich in das Schneckenhaus politischen Lagerdenkens zurückzuziehen.

Matthias Middell