Werner Greiling / Gerhard Müller / Uwe Schirmer u.a. (Hgg.): Die Ernestiner. Politik, Kultur und gesellschaftlicher Wandel (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Thüringen. Kleine Reihe; Bd. 50), Köln / Weimar / Wien: Böhlau 2016, 512 S., ISBN 978-3-412-50402-1, EUR 60,00
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Der vorliegende Sammelband soll der "wissenschaftliche[n] Auseinandersetzung mit der Thüringer Landesausstellung 'Die Ernestiner. Eine Dynastie prägt Europa'" (13) des Jahres 2016 dienen. Neben einem einleitenden Vorwort der Herausgeber (9-13) sind hier 23 Aufsätze sowie ein Personen- und Ortsregister enthalten. In der Summe decken die Beiträge den vergleichsweise langen Zeitraum von der Leipziger Teilung im Jahr 1485 bis zum Ende der Fürstenherrschaft 1918 ab. Es ist nicht ganz einfach, die Geschichte einer Dynastie in allen ihren Facetten über mehr als 400 Jahre nachzuzeichnen. Das trifft auch dann besonders zu, wenn es um einen wissenschaftlichen Mehrwert geht, der sich jenseits der im Einzelfall verdienstvoll herausgearbeiteten Details bewegen soll. Die Ernestiner als Teil des wettinischen Gesamthauses gehörten zu einer der wichtigsten Dynastien des Alten Reiches. Besonders die Heiratsverbindungen zu zahlreichen Häusern in ganz Europa verweisen auf deren Bedeutung. Die Betonung dieses Sachverhaltes lohnt auch deshalb, weil die Ernestiner mit ihren mindermächtigen Territorien gern als wenig relevant, gerade auch im Vergleich zu den albertinischen Vettern in Dresden abgetan werden. Das ist aber eher die Sichtweise der Geschichtsschreibung des späteren 19. Jahrhunderts. Sowohl die Selbstwahrnehmung als auch die von außen zugeschriebene Bedeutung war wenigstens bis zum Ende des Alten Reiches eine andere, was eben auch die dynastischen Verbindungen eindeutig belegen.
Auffällig für die vorliegende Publikation ist zunächst das Fehlen einer umfassenden Einleitung, die sowohl das Thema grundsätzlich absteckt als auch die einzelnen Beiträge einordnet und eventuelle Fehlstellen benennt. Das erwähnte Vorwort leistet das nicht. Ebenso nicht vorhanden ist ein zusammenfassender Beitrag, der die Ergebnisse bündelt und auf mögliche Forschungsdesiderate verweist. Eine thematische Gliederung der Beiträge, was bei deren Anzahl und der Komplexität des Themas angebracht gewesen wäre, ist nicht vorhanden. Neben den soliden einleitenden Beiträgen von Georg Schmidt zur Reichspolitik der Ernestiner (15-32) und Siegrid Westphal zu den Hausverträgen der Dynastie (33-54), die auch jeweils einen angemessenen Zeitraum vom 16. bis zum späten 18. Jahrhundert abdecken, ließe sich für die übrigen Aufsätze eine chronologische Reihung unterstellen. Allerdings wird diese keineswegs konsequent durchgehalten, da auch teilweise eine thematische Gliederung erfolgt.
Zumindest bei einem Teil der Aufsätze ist die vergleichsweise enge zeitliche Rahmensetzung oder die Konzentration auf ein oder zwei der zahlreichen ernestinischen Territorien auffällig. Grundsätzlich sind diese Detailstudien begrüßenswert, zumal sie eine Fülle von Informationen liefern. Gleichwohl gerät hier der Blick für die größeren Zusammenhänge und letztlich auch für die Frage der Bedeutung der Dynastie schnell an den Rand. Dieser Umstand ist aber nicht den einzelnen Beiträgen anzulasten, er resultiert eher aus einem grundsätzlichen konzeptionellen Problem des Bandes. Trotz der im Vorwort mehrfach betonten "politischen Wirkmacht" (10) und "kulturellen Anziehungskraft" (10, 13) der Dynastie der Ernestiner, die durchaus als zentrale Aspekte eines tragfähigen Konzeptes geeignet gewesen wären, wurde auf eine entsprechende Schwerpunktsetzung verzichtet.
Natürlich ist es nicht einfach, alle relevanten Punkte für die Geschichte einer Dynastie überblicksartig in einem Sammelband zu vereinen. Ein solches Vorhaben kann vermutlich nur gelingen, wenn dem Ganzen eine straffe Konzeption zugrunde liegt. Auffällig sind daher die doch zahlreichen Fehlstellen. Das betrifft auf der einen Seite die Abwesenheit potentieller Autoren und auf der anderen Seite damit verbunden das Fehlen zentraler Themenfelder, die für die Darstellung der Geschichte einer Dynastie, zumal unter den Aspekten ihrer "politischen Wirkmacht" und "kulturellen Strahlkraft" mit Sicherheit ein Gewinn gewesen wären. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien hier nur einige Punkte erwähnt. Vermisst werden zentrale Aspekte, die sich mit der fürstlichen Repräsentation befassen, was für die Darstellung der Geschichte einer fürstlichen Dynastie doch nicht ohne Bedeutung ist. Weder der Beitrag zu den Gärten (Martin Salesch, 377-409), noch zum Hoftheater (Axel Schröter, 425-443) decken das ab. Es findet sich kein Beitrag zu den zahlreichen Residenzen, keiner zu höfischen Repräsentationsformen und deren Wandel oder zur Festkultur. Auch die sich verändernde Funktion der Höfe an der Wende zum 19. Jahrhundert findet nur indirekt Beachtung (Hans-Werner Hahn, 223-240 und Marko Kreutzmann, 241-258). Gänzlich unberücksichtigt bleiben die Sammlungen und Bibliotheken, die gerade im späten 18. und im 19. Jahrhundert für die Ernestiner so wichtig wurden und bis heute so stark das Bild der Dynastie prägen. Genauso fehlt ein Beitrag, der sich dezidiert den Heiratsverbindungen durch die Jahrhunderte widmet. Auch dieser Punkt steht an zentraler Stelle des Vorworts (10), wird aber nicht eigens thematisiert. Gerade hier gerät schnell aus dem Blick, dass es bei den dynastischen Verbindungen um mehr als die englische Heirat im 19. Jahrhundert geht. Ebenfalls kein Thema sind auf der politischen Ebene die diplomatischen Beziehungen der ernestischen Herzogtümer, sowohl innerhalb als auch außerhalb des Alten Reiches. Besonders der Gothaer Hof verfügte hier über ein Netz, das deutlich über das eines mindermächtigen Territoriums hinaus reichte. Der Beitrag Bärbel Raschkes zur Stellung der Herzogin Luise Dorothea im Geflecht der europäischen Diplomatie (205-221) deutet diese Thematik nicht einmal an. Schließlich fehlt ein umfassender Beitrag zu den wirtschaftlichen Voraussetzungen und verbunden damit zu den finanziellen Ressourcen und Spielräumen der Dynastie, auf deren Grundlage erst "überregionale Wirkmacht" (13) und "kulturelle Strahlkraft" (13) entfaltet werden konnten. Überhaupt die Dynastie: Die Diskussion, ob es sich bei den Ernestinern um eine Dynastie handelte, wird weitgehend ausgeklammert, als gegeben angenommen bzw. im Vorwort (10) vorausgesetzt. In einer allgemeinen Perspektive nimmt nur Siegrid Westphal darauf Bezug (34-37). Auch dieser Aspekt hätte durchaus eine detaillierte Analyse verdient gehabt, etwa im Hinblick auf das dynastische Selbstverständnis, die Stellung der einzelnen Linien zum ernestinischen Gesamthaus, aber auch zum Haus Wettin insgesamt. Alle diese Fragen sind bisher keineswegs abschließend geklärt.
Bei aller Relevanz und Akribie der einzelnen Beiträge des Bandes, ist hier insgesamt aufgrund der konzeptionellen Schwachstellen durchaus die Chance vertan worden, die Bedeutung einer wichtigen, für die europäische Geschichte bedeutsamen Dynastie angemessen zu bearbeiten. Gleichzeitig wurde damit auch die Gelegenheit versäumt, die mindermächtigen Territorien anhand des ernestinischen Beispiels in den Fokus einer breiteren Forschung zu rücken.
Holger Kürbis