Rezension über:

Tanja von Fransecky: Sie wollten mich umbringen, dazu mussten sie mich erst haben. Hilfe für verfolgte Juden in den deutsch besetzten Niederlanden 1940-1945, Berlin: Lukas Verlag 2016, 320 S., zahlr. Abb., ISBN 978-3-86732-256-0, EUR 20,00
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Rezension von:
Hans Schafranek
Wien
Empfohlene Zitierweise:
Hans Schafranek: Rezension von: Tanja von Fransecky: Sie wollten mich umbringen, dazu mussten sie mich erst haben. Hilfe für verfolgte Juden in den deutsch besetzten Niederlanden 1940-1945, Berlin: Lukas Verlag 2016, in: sehepunkte 17 (2017), Nr. 9 [15.09.2017], URL: https://www.sehepunkte.de
/2017/09/29795.html


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Tanja von Fransecky: Sie wollten mich umbringen, dazu mussten sie mich erst haben

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Vor einigen Jahren legte die Berliner Historikerin Tanja von Fransecky eine materialreiche Studie über Fluchten von westeuropäischen Juden aus Deportationszügen nach Auschwitz vor. [1] Mit ihrem hier besprochenen Werk knüpft die Autorin an das Thema "Überlebensstrategien" an und befasst sich nun mit der Hilfe für untergetauchte Juden und Jüdinnen in den besetzten Niederlanden 1940-1945. In keinem anderen west- bzw. mitteleuropäischen Land fiel ein so hoher Prozentsatz der jüdischen Bevölkerung dem Holocaust zum Opfer wie in den Niederlanden. Von 140.000 niederländischen Juden und Jüdinnen wurden 107.000 in Vernichtungslager deportiert, von denen nur 5.000 überlebten. 25.000 versuchten sich der Verfolgung im Versteck zu entziehen, davon überlebten etwa 16.000.

Ein kurzer Überblick skizziert das deutsche Besatzungsregime sowie die Instanzen und Maßnahmen der Judenverfolgung. Die Autorin unterstreicht die anfänglich große Kollaborationsbereitschaft der niederländischen Verwaltungsbehörden. Angehörige der Amsterdamer Polizei, Angestellte der Zentralstelle für jüdische Auswanderung und die "Judenjäger" der faschistischen "Kolonne Henneicke" erhielten Prämien für jeden ergriffenen Juden und betätigten sich als Kopfgeldjäger. Allein die 54 Angehörigen der zuletzt genannten Gruppe lieferten binnen kurzem fast 3.000 Juden in das Amsterdamer Sammellager Hollandsche Schouwburg ein. Diese Phase der starken Kollaborationsbereitschaft seitens der niederländischen Administration wich erst im Frühjahr 1943 einem teilweise widerständigen Verhalten, was - vergleichbar dem besetzten Frankreich - mit der verstärkten Zwangsrekrutierung von niederländischen Arbeitskräften zusammenhing. Für die meisten niederländischen Juden kam zu diesem Zeitpunkt eine organisierte Hilfe jedoch bereits zu spät. Im Anschluss an eine Übersicht über die zahlreichen Widerstandsgruppen, die primär mit der Rettung von Juden befasst waren, beschäftigt sich Fransecky im Hauptteil des Buches mit elf Fallstudien - eine dramatischer und berührender als die andere. Nur eine kann hier aus Platzgründen näher skizziert werden:

Am 20.9.1943 kam der Sohn eines bei Bauern in Aalten untergetauchten jüdischen Ehepaars (Yitzak Jedwab und Lena Kropveld-Jedwab) zur Welt - in einem Heuschober, da die Schwester der Bäuerin, eine Anhängerin der faschistischen NSB, auf Besuch war und nichts merken durfte. Wenige Stunden später wurde das Neugeborene der eingeweihten Familie Wikkerink vor die Türschwelle gelegt. Tags darauf wurde das vermeintliche Findelkind in das Melderegister eingetragen, es erhielt den Namen Willem Herfstink. Der Amtsarzt bestätigte, das Kind sei hundertprozentig "arisch". Die Täuschung war hier eine mehrfache, denn die Wikkerinks hielten die Geburt nicht etwa geheim, sondern sorgten dafür, dass sich die Nachricht wie ein Lauffeuer verbreitete. Dies bestärkte die Nachbarn in der Vermutung, die Geschichte mit dem Findelkind sei nur erfunden, um zu verschleiern, dass es sich bei dem Baby um den unehelichen Sohn von Johanna Wikkerink handelte. Denn die Tochter der Wikkerinks hatte sich zuvor wiederholt mit einem ausstaffierten Bauch präsentiert! Die leiblichen Eltern mussten unterdessen ihr Versteck wechseln, doch Frau Wikkerink schob den kleinen Willem im Kinderwagen regelmäßig am Grundstück der neuen Quartiergeber vorbei, damit die Jedwabs ihren Sohn von Weitem sehen konnten. Nach der Befreiung 1945 wurde Willem erneut angemeldet, diesmal unter dem Namen Aron Jan Willem Jedwab.

Franseckys Buch besticht auch - und in besonderem Maße - durch fast 200 Fotografien (manche davon ganzseitig), die teils aus Privatbesitz, zum größeren Teil von 30 verschiedenen Institutionen stammen. Diese Aufnahmen vermitteln besonders interessante und plastische Einblicke in verschiedene Aspekte des Untersuchungsgegenstandes. Neben zahlreichen Fotos von "Untergetauchten" und deren Helfern, faksimilierten Dokumenten usw. finden sich zeitgenössische Objekte von großem dokumentarischen Wert, etwa ein ausgehöhltes Schachbrett, das von der Westerweel-Gruppe, einer sehr effizienten Fluchthilfeorganisation, zum Schmuggeln von gefälschten Personalausweisen usw. benutzt wurde, oder ein Tuch, das im KZ Ravensbrück mit Lebensmitteletiketten aus einem Paket des niederländischen Roten Kreuzes bestickt wurde, aber auch Szenen, die Untergetauchte bzw. deren Helfer in Alltagssituationen zeigen, etwa beim Wäschewaschen oder Kartoffelschälen. Zu den frappierendsten fotografischen Zeugnissen zählen 28 Sequenzen aus einem Film, der zwischen Juli 1942 und April 1943 im Versteck über dem Varieté-Theater Alcazar (Amsterdam) gedreht wurde. Diese Szenen zeigen unter anderem "Notfallübungen" (im Fall einer Razzia), aus denen wenige Wochen später bitterer Ernst wurde.

Trotz der didaktischen Konzeption, die das ganze Buch durchzieht und insgesamt als sehr gelungen bezeichnet werden kann, würde man sich über einige kaum bekannte Aspekte nähere Informationen wünschen, etwa über die nur knapp angeschnittene Liquidierung von deutschen und niederländischen Nationalsozialisten sowie eines "Verräters" durch zwei Schwestern (Freddie und Truus Overstegen), die zu Beginn ihrer Widerstandstätigkeit 1941 in der linksstehenden Gruppe "Waarheid" erst 15 bzw. 17 Jahre alt waren (251f.). Dieser überaus spannende Beitrag zeigt auch die drastischen Veränderungen im Umgang mit den militanten Widerstandskämpferinnen dieser Gruppe nach 1945. Während der Leichnam von Hannie Schaft (am 17.4.1945 von einem SD-Exekutionskommando ermordet) Ende November 1945 im Rahmen einer großen Trauerfeier unter Anwesenheit von Königin Wilhelmina umgebettet und Schaft posthum mit der Medal of Freedom geehrt wurde, verhinderte 1952 die niederländische Regierung das alljährliche Gedenken mithilfe der Armee sogar unter Einsatz von Panzern.

Das Buch ist klar verständlich geschrieben und offensichtlich für einen über die zeitgeschichtliche scientific community hinausreichenden Leserkreis bestimmt. Ein etwas sorgfältigeres Lektorat durch den Verlag hätte vielleicht dazu beigetragen, einige Wiederholungen zu vermeiden und (wenige) stilistische Unebenheiten zu glätten. Diese minimale Einschränkung mindert jedoch nicht die Leistung der Autorin und der Herausgeber, die mit dem vorliegenden Buch der deutschsprachigen Öffentlichkeit in vielen Facetten ein wichtiges Thema näher gebracht haben, das bis dahin weitgehend nur durch die tragische Geschichte von Anne Frank bekannt war.


Anmerkung:

[1] Tanja von Fransecky: Flucht von Juden aus Deportationszügen in Frankreich, Belgien und den Niederlanden, Berlin 2014.

Hans Schafranek