Werner Abelshauser (Hg.): Das Bundeswirtschaftsministerium in der Ära der Sozialen Marktwirtschaft. Der deutsche Weg der Wirtschaftspolitik (= Wirtschaftspolitik in Deutschland 1917-1990; Bd. 4), Berlin / Boston: De Gruyter Oldenbourg 2016, XI + 669 S.
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Seit die Unabhängige Historikerkommission zur Erforschung der deutschen Wirtschaftsministerien im November 2011 eingerichtet worden war, richteten sich in der Fachwelt große Erwartungen an das Expertengremium. Diese speisten sich daraus, dass die Kommission hochrangig besetzt war, das Ministerium ein vergleichsweise hohes Budget genehmigte und der Kommission zu Beginn vier Jahre zur Ergebnisproduktion zugestand, aus denen schließlich fünf wurden. Der hier zu besprechende vierte Band befasst sich gemäß Reihen- und Einzeltitel mit der Geschichte des Bundeswirtschaftsministeriums bis 1990. In Fachkreisen hörte man oft die Hoffnung, dass der Band wichtige Schneisen für den Bereich der Wirtschaftspolitik der Bundesrepublik Deutschland von 1949-1989 schlagen und auf absehbare Zeit zum Standardwerk werden würde.
Diesen hohen Ansprüchen kann der Band nur in sehr reduzierter Form gerecht werden. Ohne Zweifel wird man in naher Zukunft bei der Erforschung der bundesdeutschen Wirtschaftspolitik kaum an ihm vorbeikommen, doch große argumentative Schneisen schlägt der Band nur sehr bedingt. Hierfür fehlt es schon an einer verbindenden Fragestellung für die Beiträge. Der Reihenherausgeber Werner Abelshauser präsentiert zwar in der Einleitung neun Leitfragen, auf die sich die Autoren geeinigt haben sollen, doch de facto setzt sich nur Abelshauser selbst mit den meisten der Fragen auseinander, während sie in den anderen Beiträgen kaum eine Rolle spielen. Manche Fragen, die durchaus Leitcharakter hätten haben können, werden im Band noch randständiger behandelt. So unterbleibt etwa jede systematische Auseinandersetzung darüber, was die Einbindung deutscher Ordoliberaler in globale neoliberale Netzwerke für eine Bedeutung in der Praxis hatte. Einzig Gerd Hardach bezeichnet den Ordoliberalismus als westdeutsche Variante des Neoliberalismus (210), und Jan Otmar Hesse erwähnt die Einbindung von Ludwig Erhard und Alfred Müller-Armack in die Mont Pèlerin Society, das führende internationale Netzwerk des Neoliberalismus zu der Zeit (391 und 420), doch damit endet die Auseinandersetzung auch schon. Die Debatten um Kontinuität und Diskontinuität im Hinblick auf das NS-Regime sind überraschenderweise nicht zu einer der Leitfragen erklärt worden. In vielen Aufsätzen finden sich zwar Bezüge, aber da man auf eine Erkenntniszusammenführung verzichtet, bleibt es bei einem heterogenen und fragmentierten Bild.
Wenn es dem Band an einer analytischen Gesamtperspektive mangelt, so können dafür ansatzweise empirisch gesättigte Einzelbeiträge entschädigen, und dies tun sie zumindest in Teilen. Doch auch hier sind vorab einige Einschränkungen zu benennen. Empirisch gehaltvoll und mit neuem Aktenmaterial belegt sind die meisten Beiträge bestenfalls bis zum Ende der Großen Koalition 1969. Danach beruhen sie zumeist auf der Literatur und öffentlich zugänglichen Quellen wie Bundestagsdebatten und -drucksachen. Wie unsystematisch die Archivarbeit war, erkennt man unter anderem daran, dass auf einen Besuch des Archivs des Liberalismus verzichtet wurde, obwohl alle Wirtschaftsminister von 1972 bis 1989 - mit einer sehr kurzen Ausnahme - von der FDP gestellt wurden. Aber selbst Akten aus dem Bundeswirtschaftsministerium nach 1969 finden sich im Band nur sporadisch. So beruht etwa der empirisch für die Zeit nach 1969 noch gehaltvollste Beitrag von Werner Abelshauser zur europäischen Wirtschaftspolitik vor allem auf Akten aus dem Archiv des Bundesverbandes der Deutschen Industrie.
Lässt man diese Enttäuschungen - auch aufgrund vielleicht zu hoher Erwartungen - hinter sich und akzeptiert, dass es sich beim Band im Wesentlichen um eine Sammlung von Einzelbeiträgen zur bundesdeutschen Wirtschaftsgeschichte von 1949 bis 1969 handelt, hellt sich das Bild erheblich auf. Werner Abelshauser und Christopher Kopper untersuchen, inwiefern ordoliberale Vorstellungen von einer wirtschaftlichen Ordnungspolitik für die Praxis des Ministeriums von Belang waren. Sie analysieren dies vor allem anhand des Umgangs mit niedergehenden Industriezweigen einerseits und der Förderung als zukunftsträchtig erachteter Sektoren auf der anderen Seite. Sie kommen zu dem Ergebnis, dass der ordoliberale Abschied vom klassischen Liberalismus erhebliche Wirkung für das Wirtschaftsministerium hatte. Im Ministerium mangelte es auch dadurch am blinden Marktvertrauen. Stattdessen sah man "in der Förderung komparativer institutioneller Vorteile auf den Märkten den Königsweg" (92) für eine erfolgreiche Wirtschaftspolitik. Dies belegen die Autoren für die Bundesrepublik überzeugend, allerdings fehlt es an europäischen Vergleichen, sodass unklar bleibt, ob und inwiefern bundesdeutsche Besonderheiten zu konstatieren sind.
Bernhard Löffler analysiert die personellen und institutionellen Strukturen des Ministeriums. Er zeigt, dass in der frühen Ministeriumszeit (bis 1969) fast 60 % der operativen Führungsebene des Ministeriums NSDAP-Mitglieder gewesen waren, womit man allerdings im Durchschnitt der Belastung in den Bundesministerien lag. Dadurch aber, dass die Spitze des Ministeriums in der frühen Bundesrepublik von höchstens kurzfristig in der Ministerialbürokratie Aktiven geprägt worden sei, wäre der "traditionelle 'Geist eines Ministeriums'" (121) eher schwächer ausgeprägt gewesen als in anderen Behörden. Löffler entwickelt insgesamt eine positive Lesart der Veränderungen im Ministerium, indem er zeigt, wie vormalige NSDAP-Mitglieder sich für supranationale Europapolitik und transnationalen Austausch begeisterten. Demgegenüber wird allerdings der Suche nach möglichen intellektuellen Kontinuitäten wenig Aufmerksamkeit gewidmet.
Gerd Hardachs Beitrag zur Wettbewerbspolitik glänzt insbesondere durch die Erschließung neuer Materialien zur Entstehung des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen. Nicht immer zu überzeugen wissen dagegen die generellen Einordnungen. So etwa unterstellt Hardach den Ordoliberalen ein Leitbild nach dem Modell der vollständigen Konkurrenz, um dann fortzufahren: "Das Bundeswirtschaftsministerium blieb jedoch von den Empfehlungen der ordoliberalen Ökonomen unbeeindruckt. [...] Erhard betonte, dass er keineswegs eine grundsätzliche oder gar feindselige Haltung gegenüber Großunternehmen einnehme." (210) Ganz abgesehen davon, dass Erhard bei einer anderslautenden Aussage kaum als Minister halten gewesen wäre, vermag der hier ausgemachte Graben zwischen Erhard und ordoliberalen Ökonomen nicht zu überzeugen. Erhard stand durchgängig in Kontakt mit einigen dieser Ökonomen, und auch Eucken und Röpke waren nicht so realitätsblind, als dass sie nicht zwischen einem theoretischen Ideal und den Möglichkeiten und Notwendigkeiten der Praxis unterschieden hätten.
Der Beitrag von Albrecht Ritschl, der sich vor allem mit der Mittelstandspolitik befasst, ist mit über 120 Seiten der längste Beitrag des Bandes und deutlich zu lang geraten. Die Quintessenz lässt sich jedenfalls sehr schnell zusammenfassen: Schon 1952 hat der BMWi-Referent Rolf Gocht die Magna Charta der Mittelstandspolitik verfasst. Darin hielt er die staatliche Förderung kleiner und mittlerer Betriebe nur insoweit für gerechtfertigt, als ihre Entwicklung stärker als diejenige von Großbetrieben gehemmt war. Das wesentliche Problem stellte aus Gochts Sicht der Mangel an Startkapital dar, weswegen er die staatliche Förderung von Existenzgründungen befürwortete. Ein zweites Hemmnis könnte eine schlechtere Adaptionsfähigkeit gegenüber dem Strukturwandel gewesen sein, aber hier war Gocht zweifelnder und wollte nur erfolgsträchtige Marktanpassungen fördern. Grundsätzlich lehnte er dagegen jede Form von strukturerhaltenden Maßnahmen ab. Laut Ritschl attackierten unterschiedliche Akteure in der Bundesrepublik diese Richtlinien immer wieder, letztlich hielt das Ministerium aber bis 1989 und vermutlich darüber hinaus weitgehend an ihnen fest. Ritschl rückt damit ein bisher wenig beachtetes Papier in den Mittelpunkt und zeigt in verdienstvoller Weise die Kontinuitäten in diesem wichtigen Handlungsbereich des Ministeriums auf. Allerdings muss der Leser dem Autor für diese Erkenntnis über eine Vielzahl von Umwegen folgen, die den roten Faden mitunter sehr dünn werden lassen.
Jan-Otmar Hesse untersucht auf instruktive Weise die wissenschaftliche Beratung in der Wirtschaftspolitik. Er untersucht drei institutionelle Strukturen: den wissenschaftlichen Beirat, den Sachverständigenrat und die Wirtschaftsforschungsinstitute, und prüft die hier entwickelten Thesen anhand der thematischen Felder der Wettbewerbs- und der Währungspolitik. Hesse kommt zu dem Ergebnis, dass der Einfluss wissenschaftlicher Beratungsgremien auf politische Entscheidungen überraschend gering war und in der Bundesrepublik im Zeitverlauf tendenziell abgenommen hat. Trotzdem will Hesse nicht von einem kompletten Misserfolg der wissenschaftlichen Beratung sprechen, weil er davon ausgeht, dass die Expertisen langfristig Wirkungen entfaltet hätten, auch wenn er selbst zugibt, dass diese häufig kaum nachweisbar seien.
Den Abschluss bildet ein Beitrag von Werner Abelshauser zur Rolle des Bundeswirtschaftsministeriums im europäischen Einigungsprozess. Darin beschreibt er Erhards bekannte Europaskepsis und seine Präferenz für eine auf den Weltmarkt ausgerichtete Politik. Politisch unterlag Erhard, aber er versuchte im Rahmen seiner Möglichkeiten mit den Mitteln des Ministeriums weiter, eine Weltmarktorientierung zu fördern. Abelshauser betont hierbei die wichtige Rolle, die das Ministerium der Förderung von Entwicklungsländern zuschrieb, und die langfristig durchaus Erfolge zu verzeichnen hatte. Neben solch noch vergleichsweise wenig diskutierte Thesen zeichnet der Beitrag aber über weite Strecken die bekannten Etappen des europäischen Einigungsprozesses nach, ohne dass die Rolle des Ministeriums darin klar konturiert wird und dadurch ein eigener Blick auf das Geschehen entstanden wäre.
Summa summarum handelt es sich um einen Band, der wichtige Einzelbeiträge zur Wirtschaftsgeschichte der frühen Bundesrepublik liefert und für die nächsten Jahre ein wichtiges Referenzwerk in diesem Feld sein wird. Darüber hinausgehende Ansprüche vermag der Band jedoch aufgrund des Mangels an verbindenden Fragestellungen und einer eher selektiven Sichtung neuer Quellen nicht zu erfüllen.
Marc Buggeln