Peter Ulrich Weiß / Jutta Braun: Im Riss zweier Epochen. Potsdam in den 1980er und frühen 1990er Jahren, Berlin: BeBra Verlag 2017, 539 S., 101 s/w-Abb., ISBN 978-3-95410-080-4, EUR 28,00
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Das zwanzigste Jubiläum der friedlichen Revolution in der DDR brachte so viele einschlägige Veröffentlichungen hervor, dass man annehmen konnte, zu diesem Thema ließe sich kaum noch etwas Neues schreiben. Dass dies dennoch möglich ist, zeigen Peter Ulrich Weiß und Jutta Braun mit ihrer bemerkenswerten Monografie über Potsdam in den 1980er- und frühen 1990er-Jahren. Dieses Buch schließt zunächst eine Lücke in der Forschungslandschaft, weil zu dieser Stadt und Region noch keine zeithistorische Untersuchung vorliegt. Es zeichnet sich überdies durch einen breiten Ansatz aus, bei dem die Autoren "die Mosaikstruktur von Großstadt-Gesellschaften und deren eigentümliche Dynamik im historisch-politischen Zusammenspiel von Ort, Mensch und Zeit" offenlegen wollen (16). Schließlich endet das Werk nicht mit dem Sieg der Revolutionäre über das Ancien Régime und der Wiedervereinigung, sondern bezieht die erste Phase der politischen und gesellschaftlichen Transformation nach 1990 mit ein. Die Zäsur von 1989/90 wird zwar ernst genommen, aber gleichzeitig relativiert, indem nach Brüchen und Kontinuitäten über diese Epochengrenze hinaus gefragt wird.
Der Aufbau ist teils chronologisch, teils sachthematisch. Die Autoren setzen mit einer Analyse der vorrevolutionären Zustände ein und bewegen sich zwischen Machthabern und Gegenöffentlichkeiten über die ersten politisch-alternativen Aktivitäten 1987/88 hin zum Aufstand und zur Straßenrevolution vom Herbst 1989, um sich danach der Entmachtung der Stasi-Bezirksverwaltung, der Kommunalpolitik im Umbruch und den neuen politischen Kräften in Potsdam zu widmen. Allerdings gehen sie auch in eigenen Kapiteln teilweise sehr ausführlich den unterschiedlichen Gruppen, den Unruhen und dem Wandel in der Filmstadt Babelsberg, dem Aufbegehren in Theater und Wissenschaft, der Transformation der SED zur PDS, den Aufbauhelfern aus dem Westen, der Änderung der Stadtlandschaft sowie dem Wandel vom Staats- zum Vereinssport in Potsdam nach. Dabei zeichnen Weiß und Braun jeweils für unterschiedliche Kapitel verantwortlich.
Insgesamt steht Potsdam im Untersuchungszeitraum zwar "stellvertretend für eine sozialistische Stadtwelt" (428), und vieles, was von den Autoren dargestellt wird, ließ sich auch in anderen Städten und Regionen während des Umbruchs beobachten, so etwa die Ein- und Übernahme der Straße und der öffentlichen Sphäre durch die Bürger im Zuge der Herbstrevolution. Bemerkenswert sind hingegen zahlreiche Potsdamer Spezifika, von denen einige besondere Aufmerksamkeit verdienen.
Auffällig ist zunächst, dass Potsdam mehr als andere Bezirksstädte in der DDR aufgrund der Nähe zur Hauptstadt ein Knotenpunkt für Partei-, Staats- und Funktionseliten war und daher eine große Dichte von herrschaftsnahen Personen aufwies. Hinzu kamen 12.000 bis 15.000 sowjetische Soldaten im Militärstädtchen Nr. 7 sowie eine hohe Zahl von Beschäftigten des MfS - insbesondere wegen der Nähe zur Grenze nach West-Berlin. Wenngleich die Parteibasis auch in Potsdam ab 1988 in zunehmendem Maße erodierte, blieb die SED doch ein relativ starker Faktor in der Stadt, sodass sie es schaffte, am 11. November 1989 eine Gegendemonstration auf die Beine zu stellen. Noch im selben Monat kam es zu einem Wechsel an der Spitze des SED-Bezirks von Günther Jahn zu Heinz Vietze, ohne dass damit ein grundlegender Politikwechsel einhergegangen wäre. Hinzu kam der ebenfalls in Potsdam tätige Lothar Bisky als Rektor der Filmhochschule und "schillernder Exponent der Kulturszene" (336). Wenngleich eine grundlegende Erneuerung der Partei ausblieb, präsentierte Vietze die PDS bereits 1990 in Potsdam (und Brandenburg) als "eine neue Partei, eine demokratische Alternative" (341). Die PDS schaffte es in den Jahren danach, sich im Rahmen des "Brandenburger Weges" als Kraft zu verkaufen, "die primär das Gemeinwohl repräsentiere" (344), und überdeckte damit die Belastungen der Vergangenheit.
Dass Gegenöffentlichkeiten nicht nur unter dem Dach der Kirche, sondern auch außerhalb dieses Schutzraums entstanden, ist eine weitere Besonderheit Potsdams in den 1980er-Jahren, die sich auch auf die Zeit danach auswirkte. Potsdam beherbergte zwar eine vielfältige Oppositionsszene, war aber kein Zentrum für oppositionelle Tätigkeiten unter dem Dach der Kirche. Hier bildeten sich vielmehr angesichts eines Beschlusses der Stadtverordnetenversammlung vom November 1987, zahlreiche historische Altbauten in der Innenstadt abzureißen, die Arbeitsgemeinschaft für Umwelt und Stadtgestaltung (ARGUS) sowie im Mai 1988 die Arbeitsgemeinschaft Pfingstberg, die es sich zur Aufgabe machte, den Pfingstberg mit dem Belvedere in Eigenarbeit zur erhalten und zu renovieren. Beide AGs fanden Unterschlupf unter dem Dach des Potsdamer Kulturbunds und traten 1989 verstärkt an die Öffentlichkeit. Die Sorge um den Erhalt der alten städtischen Bausubstanz prägte auch den Aufbruch in der Potsdamer Stadtverordnetenversammlung am 1. November 1989, in der nicht nur gegen die Fälschung der Kommunalwahl, sondern auch gegen den Abriss von Teilen des Holländischen Viertels protestiert wurde. Der Innenstadtverfall und der unsachgemäße Umgang damit prägten maßgeblich das Aufbegehren der Bürger in Potsdam, die sich hier wie anderswo in der Stadtverordnetenversammlung ihre ureigenen Rechte und Zuständigkeiten von der Staatsmacht zurückholten. Vor diesem Hintergrund überrascht es nicht, dass bei den ersten freien Kommunalwahlen in Potsdam die ARGUS und das Neue Forum im Mai 1990 ein sehr gutes Ergebnis erzielten.
Das eigentliche Revolutionsgeschehen auf den Straßen und Plätzen Potsdams setzte später ein als im Süden der DDR. So lässt sich der Beginn der Herbstrevolution zwar auf den 4. Oktober datieren, als zu einer großen Informationsveranstaltung in der Babelsberger Friedrichskirche statt der erwarteten 300 3.000 Potsdamer kamen. Eine Demonstration zum 40. Jahrestag der DDR am 7. Oktober endete noch mit massiver Polizeigewalt und zahlreichen Festnahmen, sodass erst mit dem Massenprotest von 30.000 bis 40.000 Potsdamern auf dem Platz der Nationen am 4. November die Bevölkerung "endgültig den Anschluss an eine DDR-weite Massenprotestbewegung vollzog" (261). Nachdem kurz darauf in Berlin die Mauer durchbrochen worden war, folgte in Potsdam am 9. November die Öffnung der Glienicker Brücke.
Ein letztes nennenswertes Potsdamer Spezifikum war die Stärke der ostdeutschen Sozialdemokratischen Partei. Hier erfolgte die Gründung eines SDP-Bezirksverbands bereits am 8. November, und ab Anfang Dezember fanden in der Bezirksstadt von den Sozialdemokraten organisierte Montagsdemonstrationen statt. Das war maßgeblich auf die rührigen Potsdamer Sozialdemokraten zurückzuführen, die Kontakte zur West-SPD in West-Berlin und Bonn nutzten, um prominente westdeutsche sozialdemokratische Politiker als Redner einzuladen - inwieweit dabei die Städtepartnerstadt Potsdams mit Bonn eine Rolle spielte, wird leider nicht erwähnt. Zwar blieb bei den Volkskammerwahlen vom März 1990 auch in Potsdam die SPD hinter der CDU zurück; aber schon bei den Kommunalwahlen vom Mai wurde deutlich, dass sich die Havelmetropole zu einer SPD-Hochburg entwickelt hatte. Das sollte auch bei den Landtagswahlen im Oktober so bleiben, bei denen Brandenburg das einzige östliche Bundesland war, in dem die SPD stärkste Partei wurde. Eine zentrale Rolle spielte dabei die Spitzenkandidatur von Manfred Stolpe, der biografische Brandenburger Bezüge aufwies, bereits in der DDR äußerst prominent gewesen war und über intensive Kontakte nach Westdeutschland verfügte, insbesondere zur nordrhein-westfälischen Landesregierung unter Johannes Rau. Daher war es auch kein Zufall, dass Nordrhein-Westfalen und Brandenburg Partnerländer wurden und die westlichen Aufbauhelfer vor allem von Rhein und Ruhr nach Potsdam kamen.
Trotz einiger sachlicher Ungenauigkeiten, die vor allem in der Potsdamer Lokalpresse ausgebreitet wurden, handelt es sich um ein äußerst gelungenes Buch, das auf intensiven Quellenstudien und zahlreichen Interviews mit ehemaligen Akteuren beruht. Aufgrund seiner Anlage handelt es sich um mehr als eine weitere regionalgeschichtliche Studie, die letztlich das bekannte Bild der friedlichen Revolution nun auch für Potsdam und Umgebung bestätigt. Die dortige Übergangsgesellschaft in den 1980er- und 1990er-Jahren steht nicht nur "exemplarisch für die langsame, doch unaufhaltsame Erosion des SED-Regimes, die revolutionäre Beschleunigung und schließlich die diffizile Transformation der Gesamtgesellschaft" (435), sondern wies ganz eigene Konturen auf, die Peter Ulrich Weiß und Jutta Braun präzise herausgearbeitet haben.
Hermann Wentker